17. Dezember 2019

das verlangen nach dem entbehrten

ich mag streitgespräche. erstens, weil ich ein emotionaler mensch bin. zweitens, weil mein verstand bewegung braucht. drittens, weil man meist nur durch dissens klüger wird. der zwingt einen, eigene ansichten zu überprüfen. und wo findet man dissens?

zustimmung ist gut für die eitelkeit und angenehm für das soziale klima. widerspruch macht nachdenklich. im günstigsten fall. hinzu kommt: all das dient einem der schönsten ereignisse in menschlicher gemeinschaft. wir erzählen einander die welt.

ich neige freilich zu einem scharfen tonfall, wenn mir borniertheit begegnet, wenn sich jemand abschätzigkeit gönnt. das drollige daran: wenn es hart hergeht, höre ich oft die frage, warum ich denke, daß meine position maßgeblich sei. ich nehme das gar nicht an.

wenn es hart hergeht, sorgen beteiligte meist für ihre eigene position, so auch ich. das ist für den augenblick normativ. sonst bräuchte ich meine position ja gar nicht zu vertreten. es ist keineswegs zwingend, daran festzuhalten. was, wenn ich meinen standpunkt aufgebe? sowas kommt vor, falls mein gegenüber interessantere argumente hat.

sie ahnen nun vielleicht, ich hänge nicht an meinen argumenten, sondern bin nach dem wesentlich interessanteren aus. der grund dafür ist durchaus egoistischer natur. in der antike gab es die ansicht, erkenntnis solle sich nicht lohnen, sondern erweisen.

das meint beispielsweise, es geht um schlüssigkeit, nicht darum, den anderen zu überrennen, einen preis zu gewinnen, kohle zu machen, was weiß ich. erkenntnis soll sich erweisen. wer so einen moment nicht berauschend findet, wird meine position nicht verständlich finden.

es geht um die erlösung des eros. auch das kommt manchen dubios bis lachhaft vor. speziell jenen, die den eros bloß sexuell konnotieren, aber keine vorstellung haben, wofür dieser begriff steht. eros ist das massive verlangen nach dem entbehrten, nach dem, was nicht ist, was man nicht hat, was man nicht kennt, was man nicht kann.

wie soll ich jemandem, der mich in einer debatte gerne niederringen möchte, klar machen, was mir gelingende erkenntnis für ein vergnügen ist? das raffinierte daran, dieses gelingen muß ich nicht bloß aus eigener kraft herbeiführen. es kann sich auch durch einwände und argumente eines gegenübers ergeben.

erkenntnis ist sogar durch ereignisse möglich, zu denen ich kaum etwas oder nichts beitrage. erkenntnis ist möglich, wenn ich mein wollen in die pause schicke. in der abendländischen kultur entspräche das zum beispiel dem absichtslos schauenden.

streitgespräche sollen mich daher unterhalten, sie sollen mir ein anregender zeitvertreib sein. und wenn sie mich klüger machen, ist mir das recht. dagegen ist die vorstellung, man könnte in einer debatte „gewinnen“, ziemlich abstrus.

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