22
Oktober 2019
Ratlosigkeit als Konzept.
In der heutigen Ausgabe der Kleinen Zeitung läßt
Herr Gerfried S. aus der Weststeiermark wissen, daß er nicht
verstehen könne, warum in Sachen Peter Handke „unaufhörlich
beschwichtigt, verharmlost und relativiert“ werde, da der
doch „die Hauverantwortlichen am Jugoslawienkrieg“ geehrt
habe.
Ich kann es Herrn S.
gerne erklären. Das geschieht, weil es nicht geschieht. Wie
ist das zu verstehen? Es geschieht bloß in seiner Phantasie.
Es gibt diesen Peter Handke nicht, wie es auch „die
Haupverantwortlichen“ und „den Jugoslawienkrieg“ nicht gibt.
Sie meinen nun womöglich, ich würde zur Wortklauberei
tendieren? Keineswegs! Es waren sehr verschiedene
Kriegsszenarien, die den Untergang Jugoslawiens ergaben,
gewissermaßen ein Ensemble von Kriegen mit ganz
unterschiedlichen kriegsführenden Parteien und wechselhaften
Allianzen.
Dabei hat übrigens auch die Nato
mitgemischt. Deren Camp Bondsteel, nahe dem kosovarischen
Ferizaj, besteht heute noch.
Die serbische Soldateska
mit ihren Warlords, mit der Patronanz durch prominente
serbische Politiker und mit allerhand Gefolgschaft aus dem
Volke ist unbestreitbares Faktum. Dieser Teil serbischer
Verfehlungen ist gut dokumentiert.
Dabei wäre aber
nicht zu vergessen, daß Milosevic von serbischen Leuten
abgeschafft wurde, daß die Bewegung „Otpor!“ sich gegen
dieses Regime gestellt hatte; nach den Prinzipien von Gene
Sharp. „Die Serben“ wäre daher spätestes heute etwas
schlampig dahinformuliert.
Slowenien kam Anfang der
1990er wohl am günstigsten, vor allem als erstes davon.
Seine Moris-Brigade ist meines Wissens mit keinerlei
Kriegsverbrechen assoziiert. Bei Kroatien sieht das schon
ganz anderes aus. Die Rolle kroatischer Kräfte, vor allem in
der frühen Phase der wachsenden Konflikte, etwa in der
Krajina, ist bemerkenswert. Exponierte kroatische
Kriegsverbrecher, wie zum Beispiel der General Ante
Gotovina, haben es in die Geschichtsbücher geschafft.
Serbische und kroatische Kräfte waren übrigens einige
Zeit ganz gut kompatibel, als es darum ging, sich Bosnien
und Herzegowina aufzuteilen, wobei man bereit war, die
Bosniaken unterzupflügen. Es kam dann freilich anders.
Der bosnische Präsident Alija Izetbegovic erwies sich
ebenfalls nicht als Chorknabe. Er hatte sich mit einer
Islamska deklaracija schon in den 1970ern für panislamische
Optionen engagiert und war damit sicher im harten Kontrast
zu Titos Politik.
Ich weiß nicht, wer in den 1990ern
Mujaheddin aus der arabischen Welt auf den balkanischen
Kriegsschauplatz geholt hat. Serben oder Kroaten waren es
sicher nicht. Aus jener Situation blieben übrigens radikale
Muslime im Land, nicht grade zur Freude der autochthonen,
weltlich orientierten Bosniaken.
Wären auch noch
kosovarische Leute zu erwähnen. Deren UCK war zum Teil
Rebellenarmee, zum Teil organisiertes Verbrechen, wie mir
übrigens Hans Tomaschitz erzählte, der damals als erster
KFOR-Kommandant dafür sorgen mußte, daß die albanischen
Spitzen und deren Leibgarden ihre Waffen niederlegen.
Im Untergang Jugoslawiens wurden also einerseits alte
Rechnungen beglichen, andererseits neue Rechnungen
aufgestellt. Mittendrin natürlich noch gewachsene
Feindschaften zwischen Tschetniks und Ustaschen, weshalb
allerhand südslawische Leute zur Ansicht kamen, in den
1990ern seien die Kriege ihrer Eltern und Großeltern
ausgefochten worden.
Herr Gerfried S. aus der
Weststeiermark macht es sich also sehr bequem, wenn er sich
einfach „die Hauptverantwortlichen“ und
„den
Jugoslawienkrieg“ daherträumt, das Ganze mit Pater Handke
assoziiert und die Sache auf solche Art abhakt. Aber das
erklärt nichts.
Damit erspart er sich und uns
überdies ein Nachdenken bezüglich der Rolle anderer
europäischer Regierungen oder gar unser aller Anteil daran,
daß ausgerechnet der Süden Europas zum Teil in einem Blutbad
versank und seither die Nachfolgestaaten Jugoslawiens eher
zu Failed States tendieren, als zu blühenden Demokratien. So
können wir auch darüber hinwegsehen, wer damals an diesen
Ereignissen gut verdient hat, denn Krieg ist ein großartiges
Geschäft, aus dem viele Arten Profit gezogen werden können.-- [Tesserakt]
--
P.S.: Ginge es nach Herr Gerfried S., hätte all das
vermutlich mit uns gar nichts zu tun. Aber so geht
Geschichte nicht und so funktioniert Europa nicht. Jüngst
mailte Publizist Norbert Mappes-Niediek, dessen Urteil ich
hoch schätze: „Europa verabschiedet sich vom Balkan. Der
Europäische Rat beschließt, keine Beitrittsverhandlungen mit
Nordmazedonien und Albanien aufzunehmen.“ Ich halte das für
extrem problematisch und sehe darin einen weiteren Beleg,
wie ratlos und inkompetent der wohlhabende (nördlichere)
Teil Europas gegen seinen Südosten ist.
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