6. September 2019

Eine Faustregel besagt, wenn eine falsche Information losgeschickt wurde, braucht es etwa den zehnfachen Aufwand dieser Sendung, sie richtigzustellen. Die Quote des Verhältnisses zwischen Facts zu „Alternative Facts“ darf also derzeit mit ungefähr 10:1 angenommen werden. Das Bonmot „Only bad news are good news“ hatte sich freilich schon lange vor dem Internet-Zeitalter als treffend erwiesen. Es ist ein Fundament des Boulevards.

Das hat verschiedene Gründe. Einer davon möge als „stammesgeschichtlich tradiert“ gelten. Die Spezies Mensch hatte sich auf eine Art entwickelt, in der wir unsere natürlichen Körperwaffen verloren, als da möglich wären: Klauen und Reißzähne, warum nicht auch Hörner, eventuell sehr gefährliche Füße. (Das wurde beizeiten durch Kampfkunst-Varianten etwas ausgeglichen.)

Wir gingen evolutionär einen anderen Weg und wurden für Gefahren-Signale sehr hellhörig. Deshalb sind unsere Sinne für Gefahren ganz anders geschärft als für Wohltaten. Unsere kognitive Ausstattung springt auf Signale, die unter Bad News fallen, viel geschmeidiger an als auf andere Informationen. Das wirkt immer noch verläßlich, wenn nur das Signal kommt, ohne daß Gefahr besteht. Dieser Effekt läßt sich gut bewirtschaften.

Medienleute tun das. Politisches Personal tut das. Im Kontrast dazu: nie haben unsere Leute sicherer gelebt als heute. Es lassen sich auf Erden nur wenige Flecken finden, wo Sicherheit, Wohlstand und Freiheit in so hoher Konzentration zusammenkommen, wie das in Österreich der Fall ist. Und das auf Landstrichen, die eine Menge fruchtbaren Boden und gutes Wasser bieten.

Dazu kommt, daß sich weite Bereiche Europas so vorteilhaft entwickeln ließen, daß wir – freilich vielfach auf Kosten anderer Bevölkerungen – einen Lebensstandard genießen dürfen, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Art entfaltet hat, wie das in der Menschheitsgeschichte völlig einzigartig ist.

Wer sich also bei uns fürchtet, hat womöglich ein ernstes persönliches Problem. Oder wie es ein Kabarettist ausdrückte, ich denke, es war Gery Seidl, der sinngemäß sagte: „Wem das nicht genug ist, Leute, mehr wird’s nicht!“

Kultur, Technologie und Wirtschaft haben uns wenigstens seit der Erfindung der Karavellen und seit der Einführung der Geldwirtschaft in eine Situation gebracht, da müßten die vorhandenen Ressourcen für ausnahmslos alle reichen. Wenn in Europa jemand Not leidet, dann ist das vor allem einmal eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit und politischer Fehlleistungen.

Damit ist freilich noch nicht berührt, was sich Europa über Jahrhunderte mit seiner Kolonialgeschichte geleistet hat und was sich Industrienationen bis heute ungehemmt herausnehmen, um auf dem Rücken anderer Bevölkerungen ihre Vorteile zu genießen.

Wer das bestreitet, kennt Geschichte und Kultur Europas nicht. Wie irritierend, daß sich derzeit oft die leidenschaftlichsten Alarmisten in ihren Erregungen genau darauf berufen: die Geschichte und Kultur Europas. Kühnes Blendwerk!

Wenn ich eingangs erwähnt habe, daß das Verbreiten von Fake News und Privatmythologien bloß ein Zehntel der Kraft braucht, die nötig ist, sowas richtigzustellen, dann schließe ich daraus vor allem: wer die Herolde von Katastrophenmeldungen, die Alarmisten und Haß-Posters einfach nur beschimpft, vertieft die genannten Effekte. Solches Beschimpfen ist seinerseits eine leicht eingängige Botschaft, die den Eindruck verstärkt, bei uns bestünden übergroße Probleme.

So reichern sich all zu leicht die Besatzungen der Alarm-Abteilung mit den Kreisen jener an, die sie verachten. Beide Lager verstärken sich wechselseitig und vertiefen das Fiasko, ohne daß die Welt derweil schlechter geworden wäre. (Zumindest in Europa.)

Ich sehe keine andere Möglichkeit, als auf das demonstrative Verachten und das lautstarke Herabwürdigen Andersdenkender unbedingt zu verzichten, flott ausgefahrene Rundumschläge zu unterlassen.

Statt dessen bieten sich die Mühen der zehnfachen Arbeit an, um in den öffentlichen Debatten jenen Leuten zu widersprechen, die ihre Wahrheiten und Heilsversprechen nachprüfbar an den Haaren herbeigezogen haben.

Genau das gehört zum wirklich interessanten und belegbaren Teil der Geschichte und Kultur Europas. Genau darauf hat übrigens Immanuel Kant gezielt, als er in seiner Erläuterung der Aufklärung betonte, es ginge um den „Ausgang an selbstverschuldeter Unmündigkeit“ indem man sich seines Verstandes ohne Anleitung durch andere bedient. Schwierig? Offenbar ja.

-- [Ein Feuilleton] --

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