1. Juni 2019

Wir sind ganz selbstverständlich daran gewöhnt, menschliches Verhalten psychologisch zu deuten. Lebenspraxis, Lektüre und Therapieerfahrung führen offenbar dazu, daß wir einander vergnügt hinter die Kulissen blicken. Wer braucht schon ein Diplom? Psychologische Schwarzarbeit hat das Zeug zum Volkssport.

Daraus ergibt sich auch so manchen Boom der Ferndiagnosen, verwandt dem, was Peter Handke Fernfuchtelei nannte. Es ist offenbar sehr verlockend, jemandem bei hartnäckigem Dissens die psychische Gesundheit und/oder den Verstand abzusprechen.

Die innenpolitische Situation Österreichs fördert gerade ein Festival der psychologischen Befunde, die zwischen den unterschiedlichen Lagern rasant verschickt werden. Das macht ein sehr unangenehmes Klima.

Kabarettist und Politiker Jörg-Martin Willnauer hat dafür eben ein kurioses Beispiel geliefert. Es ist freilich irritierend, könnte als verstörend empfunden werden, daß Hace Strache nach dem Ibizagate noch politischen Rückhalt genießt. (Siehe dazu "Der Wunsch nach Kontrolle"!) Aber er hat ja seine Bürgerrechte nicht verloren. und es wurde ihm kein Prozeß gemacht. Wer ihm nach wie vor anhängt, wierd gute Gründe haben.

Nun wäre es interessant, zu erkunden, woran das liegt, welche Motive heute jemanden bewegen, einen Mann politisch zu stützen, der gerade zugeben müßte, daß er uns seit Jahren mit verdeckten Intentionen hintergangen hat und daß seine ausposaunten Ideale bloß Heuchelei sind. Ist das ein spezielles Herr und Knecht-Verhältnis? Welchen Nutzen generiert so eine Seilschaft?

Es macht freilich weniger Arbeit, diesen Menschen so einen psychologischen Befund zuzustellen: Sie haben also ihren Verstand verloren, nein, mehr noch, abgegeben. Dabei entsteht allerdings Klärungsbedarf. Ist diese Anmaßung zulässig? Ist sie nützlich?

Weshalb ich das eine Anmaßung nenne? Was soll ich denn von dieser Botschaft halten? Nämlich: Wenn du mir nichts zustimmst, muß es wohl daran liegen, daß du unzurechnungsfähig bist. Das gibt auf symbolischer Ebene vor, was zum Beispiel in der Sowjetunion einst Praxis gewesen ist.

Ich bin ein Kind des Kalten Krieges und erinnere mich noch sehr gut an das plausible Entsetzen angesichts der Nachrichten, daß dort Andersdenkende zum Beispiel in psychiatrischen Kliniken entsorgt und mit problematischen Substanzen abgefüllt wurden, nachdem das Regime einfach unterstellen ließ, die Leute hätten ihren Verstand verloren.

Wie ist es überhaupt möglich, daß ein in der Reflexion erfahrener Mensch wie Willnauer so ein Statement raushaut? Es spart Arbeit. Man muß seine Gründe nicht nennen. man muß sein Gegenüber nicht ernst nehmen. Man braucht sich nicht damit auseinanderzusetzen, daß andere die Welt anders sehen. (Ist das nicht ein altes Problem Europas?)

Da ist eben ein Unterschied zwischen Debatte und Campaigning. Das findet sich längst auch im privateren Rahmen wieder. Am 18. Mai saß ich mit einigen Leuten am Rande Gleisdorfs im Sei Giorni bei einigen Drinks, als die Idee aufkam, Wahlkämpfe dieses Jahres feuilletonistisch zu begleiten. Danach habe ich "Ein Feuilleton" (Sammlung kulturpolitischer Beiträge) eingerichtet.

Es hat nicht lange gedauert, um dafür per SMS den Hinweis auf eine angebliche psychischen Störung zu kassieren. Mir wurde professionell Hilfe empfohlen. Man hätte sich natürlich auch mit meinen Argumenten auseinandersetzen können. Aber es verkürzt das Verfahren, wenn man von Einwänden zur Sache abgeht und Einwände zur Person vorbringt. Ein Untergriff, den wir seit der Antike dokumentiert finden.

Ich nehme an, eine Linke, die aus Bequemlichkeit der Neuen Rechten einfach den Verstand abspricht, wird ihr nicht gewachsen sein. Die politische Entwicklung Europas illustriert das seit etlichen Jahren.

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