11. Mai 2019

Ich bestaune derzeit an vielen Ecken die Nuancen dieser Zeit des Zorns. Wie ist es erklärlich, daß Reizschwellen so nieder liegen? Und wie wäre diese Situation zu beruhigen? Wir haben hier einzigartige Lebenssituationen. Selbstbestimmung in Wohlstand und Sicherheit sind für uns auf einem Niveau möglich, das es in der Menschheitsgeschichte vorher nicht gab. Dennoch darf ich schon froh sein, wenn mich privat einige Menschen umgeben, mit denen ich Zeit verbringen kann, ohne auf der Hut sein zu müssen. Eine ziemlich skurrile Situation.

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Ich war gestern Nacht noch auf ein Plauderstündchen aus und in der Stadt, was mir die Gelegenheit brachte, Christine Swoboda beim Bandoneon-Spiel aus der Nähe zu sehen. Ein sehr forderndes Instrument mit einem überraschend großen Umfang über mehrere Oktaven und einer Anordnung der Knöpfe, die Swoboda "nicht gerade logisch" nennt. "Aber ich hab Freude am Üben." Und davon braucht man reichlich, um dieses Instrument zu bewältigen.

In diesem Set fand ich Gelegenheit, mich mit Ewald und Christa Ulrich zu unterhalten, die beide ein ausgeprägtes Faible für Kulturgüter der Steinzeit haben, die vermutliche alle wesentlichen Fundstellen Europas aus eigener Anschauung kennen. Christa bestätigt meine Annahme nicht, wonach zur Zeit der Linearbandkeramik eine völlig neue Form der Gewalttäigkeit unter die Menschen gekommen sei. Das könne auch davor schon dagewesen sein, sagt sie, da fehlt es bloß an Quellen, daher wissen wir es nicht.

Ewald rundet das mit dem Hinweis, daß wir heute dennoch sehr viel mehr über diese Menschen wüßten, die uns weit ähnlicher seien, als wir bisher annahmen. Oder umgekehrt, wir sind ihnen viel ähnlicher, als uns lieb sein mag. Für mich ist das gewissermaßen eine gute Nachricht, weil ich derzeit wieder stark von der Vorstellung bewegt bin, daß wir emotional und geistig sehr deutliche Übereinstimmungen mit jenen Menschen annehmen dürfen, die uns vor Jahrtausenden vorangegangen sind.

Diese Annahme hilft mir beim Verstehen von Kunst und das bedeutet ja unausweichlich ein verstehen der Conditio humana. Nein, ich spreche hier bewußt nicht von Wahrheiten, denn das ist ein Thema, welches ich den beiden Schwestern Philosophie und Theologie überlasse. Mir reicht völlig das mögliche Verstehen meiner Gegenwart mit einem Teil ihrer vermutlichen Vorbedingungen. Das ist ebenso temporär und flüchtig wie das Geschäft mit der Wahrheit, also mag ich im Subjektiven bleiben.

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Ich hab mir derzeit etliche Bilder von Keramik aus der griechischen Antike angesehen und wüßte zu gerne, was in den Menschen vorging, die derlei Motive wie stilistische Konzepte und diese Inhalte auf solchem handwerklichen Niveau zusammengefaßt haben. Der Weg von jener kargen und konzentrierten Linearbandkeramik zu solchen ausdrucksstarken Werken ist mir ein völliges Rätsel.

War darin auch schon wirksam, was wir heute als das Bedürfnis kennen, eine Sache um ihrer selbst willen gut zu machen? Ist das ein Ausdruck dessen, was Platon im Symposion als Eros beschrieben hat? Führt so ein Handeln zu dem, was ein fast vergessenes Wort mit Werkstolz bezeichnet? Und was hat das gesamt für Konsequenzen? Damit meine ich, der Erwerb von Handfertigkeit in Verbindung mit laufenden Wahrnehmungserfahrungen verändert Menschen physisch und psychisch. Das formt und prägt einen in jeder Hinsicht. Ist es dabei egal, welchen Aufgaben das gewidmet wird?

Damit frage ich nach möglichen Zusammenhängen, weil ich das in der Neolithischen Revolution gebündelt sehe. Aber Christa Ulrich hat natürlich recht. Weil wir es aufgrund der Funde erst in jener Zeit feststellen können, heißt das weder, es sei erst damals aufgetreten, noch daß es kausal verknüpft wäre... also diese exzessive Gewalttätigkeit in Beziehung zu einem speziellen Ausdruck des symbolischen Denkens, wie es sich in jener Keramik zeigt.

Der Mythos besagt, Hephaistos habe Waffen, Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke angefertigt. War ihm das jeweilige Genre nachrangig oder sogar bedeutungslos, Hauptsache die Aufgabenstellung hat ihn begeistert? (Immerhin darf als geklärt gelten, daß man kein liebenswerter Menschen sein muß, um bedeutende Kunstwerke zu schaffen.)

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Aber zurück in die Gegenwart! Die Gewaltbereitschaft, wie ich sie derzeit auch unter gebildeten Leuten finde, oft aus geradezu unbegreiflich kleinen Anlässen, aus einem banalen Mißverständnis heraus, das einen Brand auslösen kann. Im Fußball gibt es den Tatbestand des Nachtretens, der mit harten Sanktionen geahndet wird.

Auf den Straßen hat das seine Entsprechung darin, daß jemanden, der schon am Boden liegt, weiter mit Tritten traktiert wird. So läuft das, wenn man physisch wird und zum Mangel an Impulskontrolle neigt. Aber für das körperliche Zuschlagen sind wir von hausaus nicht gemacht. Dazu bedarf es einiger Praxis, um es real zu ertragen, und zwar auf beiden Seiten des Zuschlagens. Das heißt, ich bin nicht von einer Raubtierhaftigkeit des Menschen überzeugt, sondern gehe davon aus, daß es einer konsequenten Brutalisierung bedarf, um über andere herfallen zu können.

Apropos! Am 8. Mai ist daran zu erinnern, daß unsere Leute vor über 70 Jahren den Faschismus aufgeben mußten. Diesen Tag habe ich mit einem von mehreren bewegenden Filmen ausklingen lassen, die sich mit den Gewaltexzessen Irlands befassen. Ich war über viele Jahre immer wieder davon berührt, wie in Spielfilmen thematisiert wurde, was das an den Menschen bewirkt hat. Auf einigen Wegen durch die Straßen von Belfast schien mir, dieser Kummer hockt heute noch auf der Stadt und ist sogar für einen Zaungast spürbar.

Der Film "Five Minutes of Heaven" (2009) schildert die Begegnung zweier Männer, rund drei Jahrzehnte nachdem Alistair (Liam Neeson) den Bruder von Joe (James Nesbitt ) in dessen Gegenwart ermordet hat. Die Gewalt, der Haß, die Rachsucht. Dieses Gift, mit dem man sein eigenes Leben tränkt, wenn man davon nicht frei kommt. Als würde man in eine Falle tappen, die einen verschlingt. Es kommt mir derzeit vor, als hätten wir solche Kräftespiele in unseren Alltag gelassen, wie mir das aus keinem der letzten Jahrzehnte erinnerlich ist. Wir haben eine Situation!

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