18. April 2019

Zeichen, Erzählungen und gemeinsamen Handlungen. Also Rituale. Die sind nötig, um ein Wir formieren zu können. Das hab ich im Eintrag von gestern erwähnt. Vermutlich war das schon in Stammesgesellschaften wichtig und heikel. Wie brisant es derzeit ist, muß ich wohl kaum betonen.

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In genau diesem Zusammenhang finde ich den Brand der Notre-Dame interessant. Da ist unbestreitbar etwas Symbolisches angerührt, worauf Reaktionen aus ganz Europa kamen. Ich halte es für ein gutes Zeichen, denn Europa braucht genau das sehr dringend: die zeitgemäße Beachtung von Zeichen, Symbolen, neuen Narrative. Europa braucht gemeinsame Handlungen.

Freilich bekomme ich es in den Social Media gerade sehr billig. Wenn etwa umgehend die Spenden-Situation kritisiert wird, als ein "Wettlauf der Steuerbetrüger" (Der Standard) hervorgehoben, denke ich mir: Andere Baustelle! Da sollten wir vielleicht erst einmal die Themen sortieren und klären, welcher Aspekt vorrangig nach kritischen Debatten verlangt.

Ich halte es zum Beispiel für eine völlig leere Geste und nutzlose Polemik, Bilderpaare rauszuhauen, die uns ein hungerndes Kind und die brennende Kathedrale zeigen. Von den Absendern solcher Andachtsbildchen würde ich lieber erfahren: Wo können wir zusammengreifen, um diese Dinge zu ändern, und wann fangen wir damit an?

Immerhin hat die gefährdete Notre-Dame das Thema Kulturgut wieder einmal stark in die öffentlichen Debatten gebracht. Ich war übrigens fast gerührt, wer nun alles in meiner nächsten Umgebung zur Sache laut wurde, sich mit Bekenntnissen und Beschwörungen aus dem Fenster gelehnt hat. Darunter genug Leute, die in den letzten Jahren viel getan haben, um Kunst und Kultur zu Mägden des Marketings zu machen.

Damit wollte ich sagen, es sind viele Heuchler laut geworden, etliche davon nun schon mit der kommenden Europa-Wahl befaßt, um daraus Nutzen zu ziehen. Derzeit werden zum Beispiel auch regionale und lokale Kulturprogramme promotet, die das Thema Europa betonen, obwohl das rege Personal solcher Vorhaben zu Europa offenkundig nichts zu sagen hat, denn ich finde da nur Floskeln und Phrasen. (Kultur-Karaoke!)

Da bin ich nun gespannt, wie tragfähig die aktuelle Erregung sein wird und welche Themen, Debatten, Praxisschritte sich daraus ableiten lassen. Um konkreter zu werden: Ich wünsche mir in der Folge des Brandes eine angemessene kulturpolitische Debatte und so manche Erörterungen der Frage, wo wir mit unserer Auffassung von Kunst angelangt sind.

Ich wünsche mir, daß diese Vorgänge sich als ganz konkrete Spuren in der Wissens- und Kulturarbeit niederschlagen, sich dann da ablesen lassen. Unter anderem als ein tätiger Einwand gegen diese aufbrausende Heuchelei, die einmal mehr auf die Felder Kunst und Kultur zugreift, um sich daraus ein paar billige Effekte nutzbar zu machen.

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Mich interessiert zu all dem keinerlei Polemik und ich brauche dazu keine drastischen Bildchen. Ich fühle mich in der Auseinandersetzung mit dem Status quo auf ein Mindestmaß an Geschichtskenntnis angewiesen. Österreich hat derzeit einen Kanzler, der mir überhaupt keine zeitgemäße Erzählung dieses Landes Österreich anbietet,

Ich hab absolut keine Ahnung, für welches zeitgemäße Österreichbild dieser Mann steht. Wenn aktuell wieder das Stichwort "Heimat" ausgestreut wird, macht das die Sache nur konfuser, weil Heimat noch nie einen Staat bezeichnet hat, sondern viel kleinräumigere Verhältnisse meint. Wer unsere (Volks-) Kultur kennt, hat eine Ahnung vom "Hoamatl", was das Haus meint, die Landwirtschaft, von der man kam, bestenfalls einen Graben, noch nicht einmal das Dorf.

Österreich hat derzeit einen Vizekanzler, dessen Horizont in solchen Fragen etwa jenem eines Stammeshäuptlings entspricht, ihn also offenbar nicht befähigt, einen modernen Nationalstaat in einer globalisierten Welt zu denken und darzustellen.

Europa wählt am 26. Mai 2019. In diesem Zusammenhang erscheint mir der Brand der Notre-Dame, noch dazu offenbar so beiläufig verursacht, vermutlich durch eine Art Arbeitsunfall, wie ein symbolisches Geschenk. Selbstverständlich ist diese Kathedrale längst nicht mehr, was sie ursprünglich war. Ich meine daher, sie darf, sie muß sich verändern, wenn wir sie nicht aufgeben wollen. Selbstverständlich gelingt es uns Menschen kaum, Dinge zu schaffen, die Jahrtausende überstehen.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wie viel an Originalen der griechischen Bildhauerei ist uns in Form von Statuen erhalten geblieben? Kaum etwas. Das meiste, was wir davon kennen, sind Beschreibungen und Kopien. Dennoch zeigen uns Statuen dieser Zeit ein körperliches Ideal, das bis heute ungebrochene Wirkung hat, das in unserer Kultur dominant ist. (Was bedeutet das?)

Menschliche Kultur ereignet sich eben nicht bloß dank der ältesten Artefakte. Wie eingangs erwähnt, Zeichen, Erzählungen und gemeinsamen Handlungen, also Rituale, prägen die Gemeinschaften. Ein anderes Beispiel: Wie viele unter uns denken noch Stadt in Kategorien der mittelalterlichen Stadt, obwohl Städte längst ganz anders aussehen und funktionieren?

Es braucht also mindestens im metaphorischen Sinn gelegentlich Momente, durch die altes Kulturgut in Flammen aufgeht, damit Menschen Anlässe finden, in der Gegenwart anzukommen. Bleibt abzuwarten, ob Notre-Dame nun eher ein Feuer der Larmoyanz entfacht, um allerhand Jammertöne zu illuminieren, oder ob daraus einige Funken auch ein selbstbewußtes Europa beleuchten könnten, das ausreichend Kraft zeigt, die Höhe der Zeit zu erklimmen.

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