18. November 2018

Noch einmal Kulturwissenschafter Ulrich Raulff in den Momenten meiner jüngsten Zugfahrten: "Irgendwann in seinem Berufsleben spürt jeder Historiker einmal die rousseauistische Versuchung. Er findet eine neue Quelle, stellt sich ein eigentümliches Problem, und jetzt träumt er davon, er sei der erste an diesem Südpol des historischen Verlangens: Der Forscher wittert das unbeschriebene Objekt. So ähnlich ist es auch mir ergangen..."

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Da schimmert das durch, was Gunnar Heinsohn in der radikaleren Version so zusammengefaßt hat: "Um Brot wird gebettelt, um Rang wird geschossen." Rang. Das ist auch eine Frage, in die sich Michael Kohlhaas verstrickt sah, nachdem er sich von seinem Fürsten schikaniert fühlte und diese mehrfach vertiefte Demütigung nicht ertragen konnte. In der ständischen Gesellschaft war streng geregelt, wer sich innerhalb einer Hierarchie gegen wen verärgert geben durfte. (Das Konzept ist keineswegs verschwunden.)

Heinrich von Kleist hat sich in seiner Novelle "Michael Kohlhaas" auf eine historische belegte Figur aus dem 16. Jahrhundert bezogen, den Bürger Michael Kohlhase. Der war mit einem Aristokraten in einen Rechtsstreit geraten, darüber zum Rebellen geworden, hat zur Selbstjustiz gegriffen, was er mit seinem Leben bezahlte.

Ein Motiv, das mit dem Satz "Fiat iustitia et pereat mundus" verknüpft ist, der sich unter anderem so übersetzen läßt: "Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“ Hier ist es nicht all zu schwer, ein prominentes Stück vorherrschender Männerkultur zu erkennen.

Davon kennen wir recht skurrile Derivate. Als der Feldherr Adolf Hitler völlig gescheitert war und damit das Ende seiner politischen Karriere unabwendbar schien, beschloß er, sich das Leben zu nehmen. Es ist ein Nero-Befehl überliefert, den er offenbar im Sinne einer krausen Gerechtigkeitsvorstellung so begründete: "Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören."

Er reichte die Verantwortung für sein selbstverschuldetes Scheitern einfach weiter: "Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden." (Zitiert nach Ian Kershaw.)

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Der Selbstgerechte würde wohl für diese Art von Gerechtigkeit auch die ganze Welt untergehen lassen, da er selbst am Ende ist. Das Motiv kennen wir auch in der Gegenwart, wo uns diverses Personal dieser oder jener Weltuntergangs-Sekte solche Akte der individuellen Selbstüberhöhung zumutet. Im kleinen Rahmen ist das zum Beispiel ein Mann, der die Frau, welche ihn verlassen hat, tötet, und dann auch noch den gemeinsamen Kindern das Lebenslicht ausbläst, während er über sich selbst weint. Im größeren Rahmen sind das Amokläufer oder Terrorkommandos, die mit hoher Feuerkraft zwischen Menschen gehen und töten, töten, töten.

Wie erwähnt, das sind die Blüten einer Männerkultur, wozu sich gelegentlich auch Frauen verpflichten, was mir aber als markante Ausnahme erscheint. Meist sind doch Frauen direkte Opfer solcher Gerechtigkeitsausbrüche oder müssen wenigstens hinterher die Blutlachen aufwischen.

Interessensausgleich ohne Gewaltanwendung. Das ist eine knifflige Aufgabe. Die sehe ich unweigerlich mit Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit verknüpft. Das mündet ganz schnell in Überlegungen, was mit Selbstbeschränkung gemeint sein könnte. Konkreter: wie klärt man die Frage "Was ist für mich genug?" Und bleibt dann für andere noch etwas übrig? Das sind ja keine akademischen Fragen.

Wann immer Menschen an einem gemeinsamen Tisch zusammenkommen, kann es sein, daß sich jemand beeilt, das größte Stück aus der Schüssel zu nehmen oder von etwas sehr Exquisitem so viel auf den eigenen Teller zu tun, daß nicht mehr alle übrigen Leute am Tisch ebenfalls etwas davon haben können.

Ich kenne diese Momente zum Beispiel aus der Wissens- und Kulturarbeit. Da sind oft verschiedene Währungen in der Schüssel, Geld, Sichtbarkeit, Zuwendung... Wir haben eine Zeit der asymmetrisch gedeckten Tische. Das bringt interessante Aufgabenstellungen hervor...

Hab ich es schon erwähnt? Ich war dieser Tage in Bruck und Kapfenberg, um in einem kurzen Rückblick auf die letzten 30 Jahre ein paar Orientierungspunkte auszumachen, die ich, die wir in der regionalen Wissens- und Kulturarbeit für nützlich halten könnten.

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