16. Oktober 2018

Manchmal verrutschen mir die Tagesabläufe. Ich mag die Stille der Nacht sehr. An die derzeitige Kälte muß ich mich erst gewöhnen. Wenn das Fieber seine Arbeit macht, geht mein Denkvermögen in einen merkwürdigen Ruhemodus. Das heißt, ich kann über viele Stunden überhaupt nicht denken, so als wäre das eine zu anstrengende Tätigkeit.

Ich bin jemand, der sich über die Existenz von Antiquariaten sehr freuen kann. Der Geruch von alten Büchern ist mir ebenso erinnerlich wie zum Beispiel der von Benzin, von Schilcher, von Gras im Regen oder dem Haar einer Frau.

Dieser Tage zog ich mir dicke Socken an, die Winterjacke, um zum Postfach zu gehen. Da fand sich erwartungsgemäß der Essay "Sprechakte" von John R. Searle in einer Ausgabe, die schon jemand vor mir zur Lektüre genutzt hatte. Das Buch beginnt mit dem schönen Satz: "Worin besteht die Beziehung von Wörtern zur Welt?"

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Ich mag es, wenn Bücher bereits in das Leben anderer Menschen verstrickt waren. Es ist mir unbegreiflich, daß jemand ohne diese Wißbegier existiert, die einen dazu treibt, Bücher nachhause zu tragen. Ich hab diesen Herbst begonnen, meine Bibliothek rigoros zu verkleinern, um die ganzen Neuzugänge überschaubar unterbringen zu können. Der Platz war zu knapp geworden.

Das bedeutet unter anderem, mein privater Buchbestand ist nicht dazu da, gehabte Lektüre darzustellen, indem die Bücher einfach herumstehen. All jene, die ich nicht noch einmal lesen werde, auch nicht für kommende Arbeit brauchen dürfte, müssen weg; ausgenommenen jene, die mir emotional etwas bedeuten.

Bei solchen Grabungsarbeiten zeigt sich auch gelegentlich, daß ich ein Buch völlig vergessen und mir daher neu beschafft hatte, nun auch aus einem Antiquariat. So etwa Isaak Babels "Reiterarmee", das bittere Zeugnis menschlicher Niedertracht und Grausamkeit.

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Ich versuche derzeit zu begreifen, wie ein menschliches Leben sich nicht nach einem selbst gefaßten Plan ereignen könnte, sondern sich aus einem endlosen Repertoire von möglichen Schritten entfalten mag. Dabei die Bücher als Äquivalent menschlicher Erzählungen, als ein Spiel des Kennenlernens vieler solcher Möglichkeiten.

Um es ein wenig pathetisch zusammenzufassen: Wir bestellen den Boden, wie erzählen einander die Welt, wir begraben unsere Toten. Das ergibt seit zehntausend Jahren ein gut dokumentiertes Ringen der Einzelnen, aus der Bedeutungslosigkeit herauszutreten, um damit Schutz und Handlungsspielraum zu gewinnen. Dabei haben wir Rituale entwickelt, um das zu ertragen, worin wir ohne Trost bleiben.

Schutz vor Bedrohung, einander verstehen, die Welt verstehen. Ich vermute darin die Wurzeln unserer Kultur. Dann aber auch Flauberts "Bouvard und Pécuchet". Wie glühend ihr Verlangen war, über sich hinauszuwachsen, und wie sehr sie sich dabei in den Grenzen ihrer Möglichkeiten verheddert haben, wobei das Bemühen um kluge Lösungen zu allerlei Katastrophen führte. Es ist sehr verlockend, sich Größe und Bedeutung zu erträumen. Es braucht Mumm, seine Grenzen zu ertragen.

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