6. März 2018

Zwischen fünf und sechs Uhr morgens hatte sich eine dünne Schneedecke über dem Asphalt geschlossen, wo eine Stunde davor noch offene Stellen zu sehen waren. Gegen 6:30 Uhr wurde mit großem Gerät geräumt. Das ist ohne jede vernünftige Relation, aber es läuft eben nach Protokoll. Stadtleben. Ich beobachte schon eine Weile vergnügt diesen feinen Schneefall, der manchmal fast etwas von einem Schleier bekommt. Zugleich sind das vertraute Bilder eines Metaphern-Geschäftes. An den Herbst des Lebens schließt sich der Winter als Greis.

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Ich werde in wenigen Wochen 62. Das ist maximal zwei Generationen vor mir schon dieser letzte Abschnitt gewesen, der Lebenswinter. Wie viele Menschen, von der Arbeit "ausgeschunden", so hieß das, haben Mitte 60 nicht erreicht? Ich darf dagegen rechnen, dank hohem Lebensstandard und vorzüglicher Versorgungslage für weitere zehn, zwanzig oder womöglich dreißig Jahre Spielraum zu haben.

Mein Vater wurde kaum älter als ich es gerade bin. Das läßt mich heute auf irritierende Art anders über seine innere Befindlichkeit von damals denken. Daran bin ich sehr interessiert, weil ich Sätze wie "60 ist das neue 40" für unsäglich dumme Statements halte. Die Korruption eines entspannten Umgangs mit solchen Zusammenhängen, dem Altern, liegt ja schon im überaus populären "Man ist so alt, wie man sich fühlt".

Ich hab eine ausdrückliche Abneigung gegen dummdreiste Trost-Mechaniker, die dann zum Beispiel so eine Wohlfühl-Phrase basteln, indem sie einfach zwei völlig verschiedene Kategorien zusammenschustern. Auf einmal scheint dieser Satz, daß Alter Gefühlssache sei, Sinn zu ergeben. Die eine Kategorien ist das physische Altern, die andere ein mentaler Status, beides kann ich natürlich an simplen Stereotypen festmachen. Aber das macht mich dann nicht schlauer, sondern orientierungslos.

Vor allem kommt dabei heraus, daß ich kein alter Mann werden darf, sondern womöglich ein Senior sein muß. Dieser Senior wäre dann entweder ein lieber Opi, vital, fit, immer noch in der Lage, mit den Arschbacken eine Nuß zu knacken, dabei in seine gute Ehefrau verliebt wie am ersten Tag. Oder ein geölter und gebügelter Schwerenöter, der total irritiert ist, weil sich Frauen, die 20 bis 30 Jahre jünger sind, nach ihm umdrehen, wozu er gerne versichert, er habe es nicht darauf angelegt. Welche Bilder sind dazu noch allgemein verfügbar? Vor einigen Tagen hatte ich auf Facebook zu notieren:

sagt der schnösel: "ich fühl mich nicht so alt, wie ich bin." hat also offenbar keinen tau, wer er ist. (wie alt ist man denn, wenn man so alt ist?)

Die Geistlosigkeit dieser Pose offenbart sich erst, wenn man den Satz auf seinen Inhalt hin befragt. Welche Alter läßt sich denn fühlen? Wie korreliert solches Fühlalter mit einem bestimmten körperlichen Zustand? Da kommt irgendwie nichts Anschauliches heraus. Aber so viel zeigt dieses Geschwätz allemal: "Man sieht mir an, daß ich alt werde, doch ich flehe, über meinen Körper hinwegzusehen, um meine mentale Jugendlichkeit zu erkennen und mich dafür zu lieben!"

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Lassen wir beiseite, was es an einer Gesellschaft bewirkt, wenn a) Privatpersonen unsere jungen Leute ihrer Bilder berauben und b) die Wirtschaft sie ihnen erst recht entreißt, um sie zu vermarkten. Ich stoße mich an derlei frivoler Zumutung, daß man mir dann schmeichelnd mit verlogenen Images kommt, um mich zugleich mindestens unterschwellig für meinen Verlust an Kraft und Belastbarkeit anzufechten, damit ich nur ja am Haken dieser teuren Lieferanten hänge

Als wäre es nicht genug Herausforderung, daß ich die ersten vierzig Jahre schlicht unzerstörbar gewesen bin und völlig bedenkenlos meine physischen wie mentalen Reserven vergeuden konnte, was ab dem fünften Jahrzehnt gekippt ist. Seither bin ich darauf angewiesen, möglichst unaufgeregt und mit adäquaten Erholungspausen am Kräftespiel meines Lebens so einiges umzubauen, besser: umgestalten zu können.

Ich muß meine leibliche Veränderung damit in Einklang bringen und mein Selbstverständnis mit meinem Selbstbild abgleichen, denn das wirft in diesem Lebensabschnitt erhebliche Diskrepanzen auf. Derlei unübersehbare Transformation hat auch ihre mentalen Entsprechungen, mit dem kuriosen Phänomen hinterlegt, daß mir scheint, ich sehe heute meinem Vater im gleichen Lebensabschnitt unerbittlich ähnlich. (Gene sind eben kein Himbeersaft.)

Das sind fordernde Prozesse, die sensible Bereiche betreffen. Darin ist kaum etwas störender, als von der Wirtschaft und diversen Medienformationen mit Bildern behelligt, sogar infiltriert zu werden, die genau solche intimen Prozesse verschleiern, denunzieren, letztlich als unangebracht verklären.

Ich bin nicht so alt, wie ich mich fühle, sondern ich bin alt und fühle ganz genau, daß ich das unbehelligt erleben, auch genießen möchte, vor allem sehr vergnügt darüber, daß mir dieses Alter heute mehr Kraft und körperliche Integrität einräumt, als die meisten Menschen zur Zeit meiner Großeltern erwarten durften.

Allerdings muß ich für mich und in der Begegnung mit meine Leuten erst herausfinden, was das nun genau bedeutet, mit welchen Bildern sich das verträgt und welches Selbstverständnis ich daraus ableiten kann. Dabei brauche ich keine Assistenz von Medienleuten und smarten Wirtschaftstreibenden. Dazu brauche ich meine Freunde und Freundinnen, mit denen mir ein ausreichend vertrauter Umgang möglich ist, um diesen Fragen nachzugehen.

Es ist eine vorherrschende Männerkultur, die Männer in solche Dilemmata treibt und Frauen noch weit schamloser solchen Brüchen aussetzt. Ich konnte auf einem meiner Spaziergänge durch die Stadt eben erst einen anschaulichen Beleg sehen, wie sich diese Männerkultur schon in jungen Bürschchen festsetzt, da ich annehmen muß, daß es nicht Eheveteranen um die 50 oder wütende Exehemänner beliebigen Alters sind, die sich per Filzstift an Häuserwänden mitteilen.

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Es war mutmaßlich ein Teenager, der sich da aus dem Fenster gehängt hat, wobei selbst ein Männchen Mitte 20 und mit dem höchsten Testosteronspiegel seines Lebens wissen könnte: Das schafft kein Bursche, außer man flößt ihm Zeug ein, mit dem sonst Rennpferde gedopt werden. Und selbst dann bliebe bloß fraglich, wie lange vor dem Morgengrauen er dringend einen Arzt bräuchte, um diese dumme Attitüde zu überleben.

Diese Botschaft ist zuallererst eine obszöne Gewaltphantasie und auch wenn knallen hier für ficken steht, meint es eigentlich verprügeln. Dann aber ist es eines der selbstreferenziellen Kernmotive für ein Männerbild, welches sich die Illusion einer Virilität leistet, wie sie nicht einmal ein Athlet aller Disziplinen nachweisen könnte.

Nun noch ganz zu schweigen davon, daß ich niemals je ein Gerücht zu hören bekam, es gäbe irgendeine Frau auf der Welt, der es gefallen könnte, die ganze Nacht lang "geknallt" zu werden. Deshalb: ein selbstreferenzielles Kernmotiv, daß ja mit der Sexualität von Frauen absolut nichts zu tun hat.

Wenn also junge Bürschchen sich mit Phantasien und Bildern einer so außerirdischen, besser: jenseitigen männlichen Jugendlichkeit einrichten und das womöglich ein paar Jahrzehnte pflegen dürfen, schafft das stabile Grundlagen, als alternder Mann schon an den ersten eleganten Kurven zu scheitern. Wie gesagt, eine frivole Zumutung...

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