21. Jänner 2018 In
diesem Nachdenken hatte ich die letzten Tage tiefer zu gehen. Nachdenken über die Saat
des Bösen, die in einem lebendig bleibt und nicht extrahierbar ist. Eine treffende
Begrifflichkeit. Damit wir uns recht verstehen, in meinen Überlegungen ist das nicht eine
Saat, die Menschen zwangsläufig böse macht, das Böse steht hier bloß metaphorisch für
die Quelle. Was davon dann aufgeht, ist vielfältig und wandelbar.
Die Geschichtsbetrachtung läßt mich annehmen, daß wir
neben all dem, was bei Menschen an abweichenden Zuständen zu Gewalttätigkeit führt,
über gut zehntausend Jahre eine vorsätzliche Kultur der Gewalttätigkeit zugelassen
haben. Eine Gewaltkultur mit ungebrochener Kontinuität und ausgefeilten Legitimations-Strategien.
Mein Vater, der ein durchaus gewalttätiger Mann war und
selbst von Gewalt grotesk gezeichnet blieb, ein Krüppel, hat mit Aufzeichnungen aus den
1940er Jahren hinterlassen. Zu Weihnachten 1988 hatte er einen umfassenden Kommentar
fertiggestellt und mir gewidmet. Darin heißt es, daß er zwei Jahre davor die ersten
Versuche dazu unternommen habe. Er, 1924 geboren, war also dabei in meinem jetzigen Alter,
gerade 62. (Ich, 1956 geboren, werde heuer 62.)
Das heißt, als er jene von Hand zugeschnittenen Blätter
durch den damals neuen Nadeldrucker schickte, war er 64; viel älter ist er nicht
geworden. Die handschriftlichen Aufzeichnungen aus den 1940er Jahren sind in einer
Gleichmäßigkeit zu Papier gebracht, die mich immer noch erstaunt. Und sie sind
streckenweise in Versen verfaßt, wie ein ausladendes Epos.
Ich weiß heute, daß der Grund dafür nicht Pathos war,
sondern der Versuch, den Schrecken zu bannen. Das entfiel in seiner Reflexion aus den
1980er Jahren. Ich bin bis heute erstaunt, daß er sich mir auf diese Art anvertraut hat.
Es gibt dazu eine kluge und berührende Widmung auf einem eigenen Blatt; siehe: [link]
Dieses Dokument zeigt mir vor allem zweierlei. Er war gegen
Ende seines Lebens nicht geneigt, mir oder sich selbst etwas vorzumachen und es schien,
als wäre keinerlei Maskerade mehr nötig gewesen, von der uns bezüglich dieses Krieges
so viel vorgeführt worden war. Übrigens fiel mir erst jetzt, bei der neuerlichen
Lektüre, etwas auf, das ich vorher nie bedacht hatte. Er sah im Schreiben auf gleiche Art
ein mächtiges Reflexionswerkzeug, wie ich das tue.
Die Aufzeichnungen sind ausdrücklich rund um den 5. April
1945 geordnet, "da haben drei Tage und Nächte eine sehr große Bedeutung für
mich gehabt". Hintergrund all dessen war der Umstand, daß mein Vater damals
einem Bewährungsbatallion angehört hat. Das waren Einheiten, in denen
Straftäter, deren Umstände ihnen eine standrechtliche Erschießung erspart hatten,
sühnen mußten. Es führte zu Einsätzen mit einer Todesrate, die deutlich macht, daß
dies bloß eine nützliche Variation der Erschießung war.
Darauf weisen lapidare kleine Satzstücke hin, wie jenes
über den Waldkampf, wo er notierte: "Der Baum fällt. Der Soldat
fällt." Hinter manchen Fragmenten sind größere Brocken verborgen; falls da
zum Beispiel steht: "Wenn sie nur nicht fragen."
Auch wenn in jenen Apriltagen Kompanien sicher nicht mehr
auf die fast 200 Mann Kampfstärke kamen -- Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften --
sondern mutmaßlich bestenfalls auf die Hälfte, hieße das immer noch, bei deren
Missionen sind 95 Prozent draußen geblieben. Ich erwähne das, weil ich in genau diesem
Zusammenhang auf eine Notiz gestoßen bin, die mich sehr erstaunt hat. Es war ein Tag, an
dem ein Granatsplitter in seinem Oberarm steckte, ein anderer in seiner Hüfte, dazu eine
leichte Kopfverletzung. An diese Notiz schließt eine verblüffender Gedanke:
Es ist für mich ein Glücksfall, daß er seine Erlebnisse
nicht hinter Stereotypen verbergen mußte, wie so viele der Trojaner, mit denen
ich je zu tun bekam. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich als Lehrling im Buchhandel
einmal gröberen Streit mit einer mir vorgesetzten Angestellten bekam, weil sie sich
weigerte, ein Werk zu bestellen, zu dem ich erhebliche Nachfrage erlebt hab, als ich
kuriose Stammkundschaft im Alter meines Vaters hatte.
Es war ein Buch über die Waffen SS, dessen Titel für
diese Maskerade stand: "Wenn alle Brüder schweigen". Dieser Buchtitel
ist übrigens ein Zitat, entstammt einem populären Studentenlied, das Maximilian von
Schenkendorf dem Turnvater Jahn gewidmet hat. Darin heißt es unter anderem:
Ihr Sterne seid uns Zeugen,
die ruhig nieder schaun,
wenn alle Brüder schweigen
und falschen Götzen traun.
Wir wolln das Wort nicht brechen
und Buben werden gleich,
wolln predigen und sprechen
vom heilgen Deutschen Reich
-- [Der Sarajevo-Kontext] -- |