11. Jänner 2018

So weit ich zurückdenken kann wurde das Weihnachtsfest für mich oft, wenn auch nicht immer, der Auslöser einer heftigen Lesephase. In meiner Kindheit war das an einem merkwürdigen Ensemble von Gründen gelegen. Ich bekam oft Bücher geschenkt. Es gab Krach in der Familie. All das war in Schulferien eingebettet.

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Bei uns ereignete sich seinerzeit Krach in der Familie auch in physischer Natur. Da ich meinen Leuten als grüblerisch galt und außerdem stets von Büchern umgeben war, hielten sie mich für einen kleinen Klugscheißer, was damals gerne mit diversen angeblich gesundem Verfahren quittiert wurde, die ja nie je geschadet haben sollen.

Wie hätten Erwachsene, die hauptsächlich mit sich und ihren Problemen befaßt waren, damals verstehen können, daß ich als Kind bloß meinen Verstand erproben wollte und dazu gerne wache Gegenüber gehabt hätte, um herauszufinden, was all die Gedanken und Emotionen in mir wogen, was sie taugten? Sie mußten das nicht verstehen, was einem mit strenger Hand verdeutlicht wurde.

Ich bin übrigens in diesen Zusammenhängen öfter angeregt worden, naja, eigentlich: ermahnt worden, ich solle mich bezüglich dieser Erfahrungen zu einem Verzeihen aufraffen. Aber das blieb bisher fruchtlos. Ich finde mich heute darin so unversöhnlich wie damals, zumal es nie beim Zuschlagen blieb. Im Kielwasser körperlichen Attacken gab es immer auch allerhand Demütigungen in einem Spektrum zwischen subtil und grob.

Aber es hat in mir eben auch enorme Schubkraft im Erkunden der Bücherwelten ausgelöst. Das hängt alles besonders mit diesen Tagen und um die Jahreswende zu tun, mit der Stille ab Weihnachten, der Wärme von Öfen, dem Geruch erloschener Kerzen, den vielen immer noch ungelesenen Büchern und der tröstlichen Tatsache, daß Lektüre ein Asyl ist. Ein Ort, an dem einem nichts Unerträgliches geschehen kann, ganz egal, was sich sonst gerade ereignet hat.

Verstehen Sie mich recht, ich grabe hier keinen Groll aus. Es ist mir als kleine Schilderung bloß grade die passende Hintegrundfolie, um einen schönen Kontrast zu erhalten, der meine Liebe zur Lektüre anschaulich machen mag. Wo es gerade Menschen nicht sein mochten, waren immer Bücher meine verläßlichen Gegenüber, um zu überprüfen, was all meine Gedanken und Emotionen wiegen. Aber nie ist es ein Entweder-Oder gewesen. Doch nun zum Eigentlichen...

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Philosoph Robert Pfaller, den ich gestern erwähnt habe, macht geltend, daß gerade im Kunstgeschehen über viele Jahre eine so innige Befassung mit Konzepten des Interaktiven gepflegt worden seien, daß man dessen Gegenposition völlig übersehen habe, die Interpassivität. Pfaller zeigt deutlichen Mißfallen an der Vorstellung, ein Kunstwerk bedürfe der Vervollständigung durch die Betrachtung, erst die Rezipienten würden das Werk ganz werden lassen.

Amüsanter Zufall, gerade heute fand ich online im Magazin "Monopol" einen Artikel zur Frage, ob denn beschädigte Kunstwerke noch Kunst seien: "Das von der Künstlerin Elka Krajewska gegründete Salvage Art Institute in New York archiviert diese Totalschäden der Kunst und stellt sie aus – so aktuell in der Ausstellung "No Longer Art" im privaten Münchner Kunstraum BNKR..." [Quelle]

Sie werden kaum überrascht sein, daß ich diese Frage für ein Problem des Marktes halte, nicht für eines der Kunst. Aber das paßt momentan zu dieser anderen Frage, ob denn ein Kunstwerk durch die Rezeption erst vollständig würde, ob ihm folglich auch entzogen werden könne, was es zur Kunst mache, eben beispielsweise durch Beschädigung, etc.

Für mich ist dieser Teil der Debatte durch die Kunsttherorie von Boris Groys abgedeckt, der uns anbietet, daß man verstehen möge, was wir durch a) Valorisierung und b) Trivialisierung anstellen. Das Aufwerten oder Abwerten von Gegenständen, Prozessen und Ideen kann etwas auf die Seite der Kunst schieben, aber von dort auch wieder ins Triviale weiter- oder zurückreichen.

Mein Lieblingsbeispiel für dieses Potential des Verrutschens sind die Putti aus einem Gemälde von Raffael. Sollten Sie jetzt auf Anhieb noch nicht wissen, wen ich meine, wird's vielleicht mit dem Werktitel "Sixtinische Madonna“ klarer. Natürlich würde niemand das originale Artefakt selbst verramschen. Dafür ist sein denkbarer Marktwert viel zu hoch. Ja, nur denkbar, nicht in Zahlen ausgedrückt.

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Leider hält der Vorstand des Sächsischen Museumsbundes e.V. seine zweite Stellungnahme zur Frage "Wieviel ist die Sixtinische Madonna wert?" nicht mehr online. Aber auf Umwegen über andere Publikationen läßt sich erfahren: "There is, however, no answer to be read in the pamphlet." So etwa bei den die Fachleuten von Schätzungsexperte Vasaris. Die Professionals des Bewertens kritisieren:

"Keine Bewertung ist auch keine Lösung. Stattdessen sollte dieser Umstand ein starker Grund sein, eine gültige Finanzstruktur mit guten und praktikablen Bewertungsmethoden zu entwerfen." Sie begründen das so: "Distinct valuations scales, like trade value and cultural value, can, for some specific purposes, be expressed in a common denominator. That does not negate importance to cultural or spiritual value but makes it to some extend workable. Nobody, furthermore, asks to apply these data indiscriminately." [Quelle: PDF]

Das originale Artefakt, das Gemälde, wird demnach niemand verramschen. Aber fragmentarische Bildinhalte eignen sich dazu vorzüglich, wobei die beiden Putti an Verramschung vermutlich alles übertreffen, was sich sonst noch beim Plündern alter Meister anbietet. Mit diesen beiden wohlgenährten Exemplaren aus der Geflügelwelt komme ich zurück zu Pfaller. An einer Stelle im erwähnten Buch heißt es:

"Interaktivität in der Kunst bedeutet, dass Betrachter sich nicht allein dem »passiven« Betrachten von Kunst widmen dürfen, sondern »aktiv« zur Vervollkommnung des Werkes beitragen müssen." Daraus ergibt sich allein schon eine derart intime Nähe zum Publikum, mit der ich nichts anzufangen wüßte.

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The Junction: Verlorenes Artefakt von David Staretz

Pfaller präzisiert: "Das interaktive Kunstwerk ist eines, das noch nicht zur Gänze vollendet ist, sondern eine Zugabe an kreativer Arbeit erwartet, die von den Betrachtern beigesteuert werden muß."  Genau das lief bei uns so viele Jahre auch unter dem Stichwort "Intervention", was zu ziemlich nervenaufreibenden Momenten führen konnte, wo etwa jede beliebige Form von Sozialarbeit auf einmal als Kunstpraxis gelten sollte. Und die ganz Ratlosen, besser gesagt: Konzeptlosen, konnten sich im Notfall immer noch auf Beuys berufen, indem sie etwas als "Soziale Plastik" ausgaben, ganz egal, ob sie Beuys je genauer zugehört haben oder nicht.

Wie erfrischend im Gegenzug Pfaller, der sich zum Beispiel "ein Kunstwerk, das sich selbst betrachtet" vorstellen mag. Mir gefällt das unter anderem deshalb, weil ich mich in den frühen Jahren von "The Long Distance Howl" sehr häufig vom Publikum abgewandt hab, weil ich mir von dessen Rezeption nichts für meine Arbeit erwartet habe.

Das Projekt "The Junction" ist voll solcher Momente, wo ein Werk bloß durch seine Erwähnung in einer Dokumentation noch irgendwie greifbar blieb, ansonsten da draußen, auf "meiner Strecke", ganz sich selbst überlassen ist. Manchmal haben mich beim Entstehen solcher Momente einzelne Personen begleitet, oft war niemand dabei. Auch der nachfolgende "Cybertrail" war stellenweise noch davon bestimmt, daß "ein Kunstwerk sich selbst betrachtet".

Freilich haben viele Menschen in meiner Nähe angenommen, so eine Verfahrensweise sei ohne Wirkung, daher ohne jeden Nutzen. Eine völlig falsche Annahme, wie ich versichern darf, weil sie zu viel von dem ignoriert, wie menschliche Gemeinschaft und daher auch Kultur überhaupt funktioniert.

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