30. Dezember 2017

Das Jahr endet in etwa eineinhalb Tagen, in recht wenigen Stunden, wovon ich einige schlafend verbringen werde, einige mit Spazierengehen und etliche mit dem Lesen kontrastreicher Texte. Wie oft haben sich in den letzten Jahrzehnten Menschen davon irritiert gezeigt, daß man bei solchen Abläufen nicht sagen kann, was denn nun Arbeit und was privates Vergnügen sei.

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Daß sich beides decken könne, erscheint offenbar auch in meinem Milieu etwas suspekt. Da kommen die Etiketten durcheinander. Wir sind so sehr eine Freizeitgesellschaft, ideologisch untermauert, durch strenge Erziehung gründlich zurechtgeformt, daß wir in diesen Fragen des tätigen Lebens eine Diversität zwar denken können, aber sie gelebt zu sehen schafft erhebliche Unruhe.

Ich werde weiter Beschwerde führen, daß wir die Muße, eine uralte Kulturtechnik, als Müßiggang denunzieren. Dabei haben wir es dringend nötig, unsere Arbeitsbegriffe zu überprüfen. Diese dringende Debatte schleppt sich dahin, während die Vierte Industrielle Revolution galoppiert und uns Lebenssituationen aufzwingen wird, die sich mit derzeitigen Arbeitsbegriffen nicht mehr beschreiben und bewältigen lassen.

Ich beziehe Anregungen zu diesen vor uns liegenden Fragen aus der Geschichte. Es wird übrigens tatsächlich klar, wie zentral ein anspruchsvolles geistiges Leben gefordert ist, wenn sich Umbrüche abzeichnen oder schon vollziehen, wenn man sich die Geschichte Europas etwas näher ansieht.

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Unser Denk- und Projektraum "Dorf 4.0" ist aus solchen Betrachtungen interessant einzurichten. Dabei tun sich verblüffende Schnittpunkte auf. Ich war in letzter Zeit vor allem mit einigen grundlegenden Überlegungen befaßt, dank derer die letzten 200 Jahre etwas besser verständlich werden sollten, diese permanente technische Revolution, in der wir leben.

Warum gab es im antiken Griechenland keine Industrielle Revolution? Warum gab es sie in England, das darin einige Zeit eine weltweit einzigartigen Vorsprung hatte? Warum gab es sie in Europa und nicht in einer der großen alten Kulturen, wie etwa China? Das empfiehlt einerseits ein Blättern in wissenschaftlichen Arbeiten, das läßt mich andrerseits bei der Durchsicht alter Magazine müde Augen bekommen. Über zahlreiche Periodika wurden seinerzeit die neuen Technologien bekannt gemacht.

So gründete zum Beispiel der Augsburger Fabrikant und Chemiker Johann Gottfried Dingler das „Polytechnische Journal“. Zu jener Zeit ging es zügig mitten in die Zweite Industrielle Revolution. Facharbeiter und Handwerker wurden nicht nur über technischen Innovationen informiert. Zu meinem Erstaunen bekamen sie etwa in London mit dem gleichen Medium auch Lyrik ins Haus.

Der Patentanwalt Robertson gründete 1823 das "The Mechanics' Magazine", war bis zu seinem Lebensende als dessen Herausgeber tätig und schrieb laufend Beiträge dafür. Das Blatt galt als preiswerte Wochenzeitschrift und war in England die erste Publikation dieser Art.

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Ich hab in einem der Schlußtexte zum Projekt "Vom Pferd zum Sattelschlepper" schon eines dieser Gedichte aufgegriffen: "Komm, glänzender Aufschwung! auf dem Ruder der Zeit..." [link] Die Magazin-Ausgabe vom Samstag, dem 30. August 1823, ist dem Gedenken an James Watt gewidmet, der am 25. August 1819 in seinem Haus in Heathfield verstorben war. Das geriet natürlich zu einer hymnischen Würdigung. Hier die pathetische Lyrik-Passage vom Cover dieser Ausgabe.

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„Wem immer noch Arbeit und Schweiß und Schmerz beiwohnen“, möge sich also trösten, daß er „doch die Quelle jeder sanften Kunst“ sei, die uns jene „Zivilisation des Lebens“ bringt, von der die Völker in den Kolonien freilich nicht einmal träumen durften.

Was es Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete, einen großen technischen Vorsprung zu haben, macht Historiker Heinrich Bortis deutlich: „Das Jahr 1850 bildete den Höhepunkt der englischen Dominanz in Europa und in der Welt.“ Er zeigt die Relationen anschaulich: „Die Bedeutung der englischen Wirtschaft auf Weltebene stand um 1850 in keinem Verhältnis zur Grösse des Landes: 8% der europäischen Bevölkerung und 2% der Bodenfläche Europas.“

Das weist unter anderem auf enorme Geburtenraten hin, denn da waren offenbar genug Söhne verfügbar, um das eigene Land zu bewirtschaften, Flotten zu bauen, bewaffnete Kräfte aufzustellen, sie in andere Weltgegenden zu schicken, um dort zu erobern und zu kolonialisieren, wobei reichlich gestorben werden konnte, der Vorrat war großzügig.

Dazu noch ein interessantes Detail aus diesem Umbruch eines agrarischen Landes zu einer führenden Industrienation. Bortis: „Wichtig: um 1840 herum stellen allein Dienstboten (Mägde, Knechte, Butler) 12 - 15% der Arbeitsbevölkerung dar. Problem: Der Industriesektor vermag das rasch wachsende Arbeitskräfteangebot nicht zu absorbieren. Der Dienstleistungssektor dient als Auffangbecken.“

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Bei all dem wäre ja interessant, sich zu fragen, wohin Industrie und gesamt die Wirtschaft uns derzeit führen, ob das eventuell auch bedeuten könnte, daß wir zu einer Kolonie anderer werden. Ich meine das nicht als eine Art Angst-Szenario wegen der Flüchtlinge, vor denen sich viele bei uns so gerne fürchten und denen sie in dümmlicher Unterstellung zutrauen, sie würden derzeit "unsere Kultur" und "unsere Identität" beschädigen. (Die nimmt momentan am meisten Schaden an der Ignoranz und Unkenntnis unzähliger Einheimischer.)

Ich sehe Bedrohungen all dessen eher in technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, wo wir uns den Fragen, die daraus entstehen, nicht angemessen widmen. Das wären also vor allem einmal selbstverschuldete Probleme. Darin liegt nun auch ein Querverweis auf unser 2018er Kunstsymposion mit dem Thema "Interferenzen", wo wir bezüglich relevanter Fragen zur Gegenwart vorankommen sollten.

-- [Das 2018er Kunstsymposion] --

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