20. Dezember 2017 Industrie.
Umbrüche. Kürzlich die Konferenz [link] mit den sachkundigen Personen, welche derzeit im einschlägigen
Berufsleben stehen, nun an einem Tisch mit den Senioren des Metiers. Ich nennen sie
vorzugsweise die Alten Meister, denn jene, mit denen ich hier etwas in der
Vergangenheit stöbern darf, haben etwas Auffälliges gemeinsam.
Sie haben ihr Brot in Fabriken verdient, wo es um Massenfertigung
ging, doch sie haben dabei Kompetenzen erworben und pflegen sie bis heute, die dem alten
Handwerk entsprechen. Pensionierung hin oder her, sie halten daran fest, in dem tätig zu
sein, was ihre Leidenschaft ist.
Sie haben von Fabrikshallen, Werkstätten und Büros in
kleine Schuppen und Garagen hinübergewechselt. Sie pflegen ihre Netzwerke, jene
Bezugssysteme, innerhalb derer relevante Aufgaben gesucht und Probleme gelöst werden, wo
Wissen erhalten wird, das zu großen Teilen nicht dokumentiert ist.
Auf dem Foto oben die Hände der Meister Pillich und
Thaler. Pillich hat für Cmyral den Tank einer Rennmaschine von Grindlay Peerless
restauriert. Cmyral sagt: "Bei uns kann das ja keiner mehr. Ich hätte noch einen
in Ungarn gewußt, da fahr ich 300 Kilometer." Pillich grinst und sagt: "Da
werd ich dir noch das Kilometergeld auf den Preis aufschlagen."
Dieser Tank hatte offenbar Jahrzehnte an einer Wand
gehangen, ursprünglich mit Benzin gefüllt, was jemand mitunter tut, weil ein voller
Benzintank innen nicht rostet. Vielleicht wurde das Teil dann vergessen. So bildete sich
eine Ablagerung wie trübes Glas, die Pillich bei der Arbeit zutage brachte. Eine
merkwürdige Substanz, die mich in Haptik, Gewicht und Brüchigkeit an Gummi Arabicum
erinnert, woraus man einen Klebstoff machen kann, den mein Vater einst beim Anlegen von
Fotoalben verwendet hat.
Diese Details sind der Betrachtung wert, wo ich derzeit
verstärkt auf der Spur einiger Zusammenhänge zwischen Volkskultur, Popkultur und
Gegenwartskunst bin, was bedeutet, ich durchforste etablierte Erzählungen
(Narrative) nach Relationen und Wechselwirkungen, um das 20. Jahrhundert besser zu
verstehen. Das hat seine aktuelle Markierung in den Eckpunkten des Zeitfensters 1918-2018.
Damals war Europa wie heute in einer anschwellenden
Modernisierungskrise, bei der wir präfaschistische Kräftespiele entdecken
können. Auf der Übersichtsseite zum 2018er Symposionsbereich "Spurwechsel" habe
ich notiert: "Montag, 18. November 2017: Österreich erhält via Angelobung eine
neue Regierung, die einen Spurwechsel ausdrückt."
Diese präfaschistischen Momente gehören auch zur
gegenwärtigen Situation, was derzeit für viel Irritation sorgt. Aber zurück zu den
Narrativen, die mit technologie- und sozialgeschichtlichen Prozessen verwoben sind.
Von der erwähnten Grindlay Peerless wurden 40
Einheiten gebaut. Jene von Cmyral ist mit einem Rudge-Motor versehen. Diese
Betriebe -- Rudge und Grindlay Peerless -- waren Nachbarn in Coventry,
jenem britischen Industriezentrum, dem Österreich das Steyr/Puch Waffenrad
verdankt, denn das war ursprünglich ein Lizenzprodukt, das Ende des 19. Jahrhunderts von
der Firma Swift aus Coventry übernommen wurde.
Das sind also Exponate der Zweiten Industriellen
Revolution, von welcher der Große Krieg 1914 eine Technologie bezog, die zu einem
bis dahin unbekannten Völkerschlachten führte, das mentalitätsgeschichtlich bis in die
Gegenwart reicht.
Hier zeigt Pillich eine andere von Hand gefertigte Arbeit,
den Werkzeugkasten, wie er unter die Plattform des Steyr-Puch Haflinger
geschraubt wird. Der größere Zusammenhang: Thaler hat meiner Einschätzung zugestimmt,
durch das 19. und 20. Jahrhundert war ganz Europa eine große Versuchsanstalt, ein Labor.
In tausenden Schuppen und Fabriken wurde getüftelt, herumprobiert, geschraubt, wurden
technische Lösungen errungen, durch die sich die Welt veränderte.
Diese Männer sind noch lebendiger Ausdruck einer
derartigen Geschichte. Und sie sind sich weitgehend einig, daß solche Kompetenzen,
Haltungen und Verfahrensweisen nun mit ihnen verlorengehen werden. Sie können Dinge, die
selbst engagierten Jüngeren nicht mehr greifbar sind. Es wird von der Wirtschaft nicht
gebraucht, nicht bezahlt, nicht mehr gelehrt.
So könnte gut sein, daß handwerkliches Können, wie es
hier repräsentiert ist, in einigen Jahrzehnten über kleine Nischen wieder auftaucht,
vergleichbar den heutigen Survival-Spezialisten, die uns erstaunen, weil sie uns
zeigen, wie man am Rande oder außerhalb der vertrauten Zivilisation überlebt, welche
Fertigkeiten man dazu braucht.
Gut möglich, daß sich solche Überlegungen auch im
technisch-handwerklichen Bereich ergeben. Science Fiction oder Vorsorge? Bei der
vorherigen Konferenz war das Thema kurz auf dem Tisch und Unternehmer Christian
Schweighofer hatte erläutert, welche Vorsorge und Vorratshaltung er für sinnvoll hält.
Blackout. Stromausfall. Was geschieht mit uns,
schließlich: was tun wir einander an, wenn in ganz Europa für Wochen der Strom
ausfällt? Der österreichische Autor Marc Elsberg hat einen populären Roman zu diesem
Thema verfaßt, der eben "Blackout" heißt.
Als wir 1848 die Erbuntertänigkeit los wurden,
die Leibeigenschaft ein Ende fand, begann eine Serie von Erfahrungen mit neuen
Abhängigkeiten. Nun, da die Vierte Industrielle Revolution begonnen hat,
übrigens die zweite technische Revolution innerhalb des Lebens dieser Männer, wäre zu
klären, welche handwerklichen und technischen Kompetenzen in einem Gemeinwesen unbedingt
erhalten werden sollten.
Was ist verzichtbar und was wäre ein bitterer Verlust, da
sich die Wirtschaftswelt in solchen Fragen gerade neu aufstellt, neu klärt, welche
Fertigkeiten in den Betrieben gebraucht und welche verworfen werden? Selbstredend müßte
auch das gesamte Schul- und Bildungswesen darauf reagieren, der Kulturbereich ebenso. (Siehe
dazu unter anderem in Die Presse: "Blackout": Strom ist wie Blut im Körper.)
-- [Dorf 4.0: Projektabschluß] -- |