15. Oktober 2017
Sturmhöhe der Zeit
Modernisierungskrise. Das ist ein Begriff,
den ich in den letzten Jahren gerne bei der Arbeit verwendet habe. Krisen sind nichts was
man vermeiden sollte, lassen sich auch gar nicht vermeiden. Eine Redensart empfiehlt, man
solle keine gute Krise vergeuden. Die Kultur des Abendlandes ruht unter anderem auf der
Annahme, daß es ohne Krise keine Katharsis geben könnte.
Damit könnte verständlich werden, daß
Krisen ein unverzichtbarer Bestandteil von Entwicklungen sind. Da wir uns aber schon lange
Systeme schaffen, die unsere Lebensbedingungen schneller verändern, als uns die Adaption
an neue Verhältnisse gelingt, haben Krise einen schlechten Ruf.
Österreich hat heute wählt, was uns laute
Gesänge der Beunruhigten beschert. Hat sich denn irgendwas ereignet, das unser Leben
belastet, bedroht, dabei nicht schon Jahre absehbar war, in aller Ruhe daherkam? Mir
fällt nichts ein, was uns in Österreich derart schnell erreicht hätte, um hinreichende
Reaktionen auszuschließen, weshalb das Klagen in diesen Tagen weit mehr Karaoke als
solider Warnruf ist. Es ist mehr ein Wehklagen über die eigenen Schläfrigkeit, aus der
man nun erwachen könnte.
Nein, nichts kam plötzlich, auch nicht der
massive Rechtsruck in den öffentlich geäußerten Ansichten. Die Neue Rechte hat
sich seit den 1980er Jahren quer durch Europa recht unbehelligt Richtung Rathäuser und
Parlamente in Bewegung setzen können. Wie viele von uns haben das nicht ernst genommen
und es später zu mühsam gefunden, sich damit konsequent auseinanderzusetzen, sich darauf
wirksam einzulassen?
Während ich diese Notizen verfasse, kommen
die ersten Hochrechnungen über das Web herein. Da lese ich: ÖVP: 30,5% (+6,5%) / SPÖ -
26,2% (-0,7%) / FPÖ - 26,8% (-6,3%) / Grüne - 4,7% (-7,7%) / Neos - 5,3% (+0,3%) / Liste
Pilz - 4,3% (+4,3). All das bei einer Schwankungsbreite von 2,2%, nachdem derzeit etwa 49
% der Stimmen ausgezählt sind, wobei die Wahlbeteiligung etwa 79,2 Prozent betragen haben
soll.
Wer jetzt behauptet, Österreich habe sich
für kühne Schritte in die Zukunft entschieden, für einen Umbruch in der Politik, wo
doch die ganze Welt im Umbruch ist, also für einen Ansatz zu neuen Verhältnissen, ist
entweder Partei-Stratege, Heuchler oder ein Agent der Dummheit. Österreich hat sich in
der Politik mehrheitlich für das Verharren entschieden, das Einfrieren in veralteten
Positionen, verbrämt mit vielen Phrasen.
Es ist ziemlich skurril, daß zwei Parteien,
die mindestens implizit Bilder aus dem vorigen Jahrhundert hochhalten und wo möglich auch
derart antiquierte Politik, vorerst die meisten Stimmen erhalten haben.
Eine Mehrheit der Menschen hat sich für
Sand in den Augen entschieden. Das schafft wenigstens einige Klarheit, macht deutlich, wo
wir angekommen sind, wo das Land steht. Keine politische Kraft kann die Zeiger der Uhr
zurückdrehen, weshalb ich davon ausgehe, daß wir uns der Höhe der Zeit werden stellen
müssen, ob uns das paßt oder nicht. Um diesen Aspekt sorge ich mich daher nicht, er wird
unerbittlich schlagend werden.
Aber mit Sand in den Augen wird das sehr
viel schmerzlicher geschehen, als wenn man mit neugierigen Blicken und gerüstet für
Belastungen diese Höhe der Zeit erklimmt. Die Liste der Aufgaben, denen wir uns stellen
müssen, sieht ja etwas anderes aus, als sie uns ein erheblicher Teil des politischen
Personals nun über weite Strecken vorgebetet hat.
Ich hab immer diese Marketingleute und
Falschmünzer vor Augen, die uns ja auf allen Ebenen des Gemeinwesens ihre
Wohlfühl-Kampagnen aufdrängen und sich dabei für Einwände so auffallend taub machen.
Auch gut, dann werden wir eben auf die harte Tour dazulernen müssen.
Was ich heute schon an Getöse und Klagen
vernehme, schert mich einen Dreck. Das ist vergeudete Zeit und vergeudete Kraft. Ich
brauche meine Ressourcen für einen frischen Realitäts-Check und für ein Nachdenken, was
genau nun zu tun ist. Ich brauche, was ich zur Verfügung habe, um die nächsten Schritte
anzugehen, sich den Fragen und den Aufgaben zuzuwenden, die auf der Höhe der Zeit nicht
bloß warten, sondern über diese Anhöhe zu uns herüberschwappen. Bei all dem ist
Larmoyanz so nützlich, wie ein großer Stein beim Schwimmen...
Facebook-Notiz vom 15.10.2017
-- [Kunstsymposion: Politik]
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P.S.:
Das Ergebnis der Stadt Gleisdorf im Detail: ÖVP 35,10 Prozent (+ 15,72 %), FPÖ 29,32
Prozent (+ 6,64 %), SPÖ 20,26 Prozent (+ 1,27 %), Neos 5,63 Prozent (+ 1,77 %), Grüne
3,81 Prozent (- 9,79 %), Pilz 3,70 Prozent. [Quelle] |