26. Juni 2017

Ich bin freilich nicht bloß mit Fragen zur Kunst und zur Kulturpolitik befaßt. Derzeit fesselt mich sehr, was rund um uns an älteren Belegen des symbolischen Denkens der Menschen steht, hängt, zu sehen ist. Es weist einiges drauf hin, daß wir heute in unseren Ansichten und ästhetischen Gewohnheiten deutlich von dem geprägt sind, was ein Leben im 18.Jahrhundert an Geschmacksbildung zuließ; außerhalb bevorzugter Kreise, also vor allem unter den illiteraten Teilen der Bevölkerung.

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So gesehen vor der Kirche von Edelsbach

Es ist übrigens auch die Zeit, in der Volkskunde auftaucht, also ein Klein- und Bildungsbürgertum beginnt, die "einfache Bevölkerung" belehren und bilden zu wollen. Damals entstanden Vorstellungen einer Volkskultur, die offenbar bis heute wirksam sind. Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller meinte, die ländliche Bevölkerung habe damals 75 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausgemacht.

Die aufkommende Industrialisierung sorgte für das Entstehen neuer Zentren, was Menschenströme aus der agrarischen Welt abzog. Auf dem lande kam übrigens eine Kleinhäuslerbewegung in Gang, durch die für viele Menschen überhaupt erst eine Familiengründung möglich wurde. Was uns heute gerne auf der Basis von verheirateten Leuten als die "traditionelle Familie" in der Anordnung "Vater, Mutter, Kind" angedient wird, ist keinesfalls so "traditionell", wie man uns gerne erzählt. Dazu fehlten einem großen Teil der Bevölkerung allein schon die sozialen Voraussetzungen und materiellen Mittel.

Es ist auch nicht mehr allgemein bekannt, daß die Soldaten des Kaisers lange eine Lizenzgebühr zahlen mußten, um heiraten zu dürfen; und zwar die Mannschaften höhere Beträge als die materiell bessergestellten Offiziere. Wie das beim Klerus der Zölibat ausdrückt, war eben auch der kriegerische Dienstherr besorgt, daß familiäre Bindungen den Diensteifer des Fußvolkes schmälern könnten. Aber dazu ein anderes mal.

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Bei der jüngsten Wochenend-Tour mit Ursula Glaeser vom KulturBüro Stainz hat mich der Tabor in Feldbach am meisten beeindruckt. Eine wunderschöne Anlage mit ansehnlichen Details. Das zeigt einmal mehr die ästhetischen Qualitäten, zu denen man auch auf dem Lande immer passende Talente finden konnte, denn an diesem Teil des heutigen Ensembles ist noch nichts von dem hochfahrenden Protzen späterer Bauten.

Die ausgewogene Anlage aus der zweiten Hafte des 15. Jahrhunderts hat allerdings einen schweren Makel. Die klare, gotische Kirche, dem Tabor angemessen, ist zwar noch erhalten, doch zum Nebenschauplatz umfunktioniert. Gegen 1900 wurde ein stilistisch an der Renaissance orientiertes Monster von Kirchenbau mitten in das Ensemble geklotzt.

Man möchte sagen: "Auch schon egal!", denn unmittelbar daneben wird die freie Fläche von einem weiteren architektonischen Scherzartikel dominiert. Diese auf neugotisch gebürstete Villa Hold würde prächtig nach Disneyland passen. Damit zeigte 1992 eine Brauereibesitzerin, was Geld alles möglich macht. Neben diesem Schlößchen wie der hypertrophen Stadtpfarrkirche macht sich das Feldbacher Rathaus bescheiden aus.

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Man muß etwas über die einstmals bescheidenen Landwirtschaften der Oststeiermark mit ihren kargen Erträgen wissen, um die Großspurigkeit dieser architektonischen Geste zu sehen; zumal auch die Industrie mit ihren besseren Jobs erst nach und nach ankam.

Also darf spekuliert werden, welche Machtspiele um sozialen Rang da in der Stadt südlich von Gleisdorf gewirkt hatten. Hier sieht man gut, daß die alte gotische Kirche neben der jüngeren fast wie eine Kapelle wirkt. Die Hold Villa (unten) macht deutlich, was ein wirtschaftlich erfolgreiches und daher energisch aufstrebendes Bürgertum den alten Eliten auszurichten beliebte.

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Wie erwähnt, das ist ein Bau von 1900, formal ein etwas unerträgliches Getue. Diese Ecke der Stadt läßt außerdem darüber nachdenken, welche Vorgeschichte hier in Stein gehauen ist und was dieser Ort heute im Gefüge der oststeirischen Städtekooperation (8 Städte) für eine Position haben mag. Woher nehmen wir nun die ästhetischen Erfahrungen, dank derer sich formale Qualitäten feststellen lassen? Ist das ein Stück Kulturgut, das wir
a) hatten, aber verloren haben?
b) nie hatten, weil es den Eliten mit ihren speziellen Zugängen vorbehalten war?
...also
c) erst erringen müßten? Falls ja, auf welche Art, mit welchen Mitteln, an welchen Beispielen geschult?

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An diesem Wochenende hatte ich noch ein anderes Erlebnis, in dem deutlich wurde, daß manchmal die Funktionen zu sehr feinen Formen führen, welche eben nicht nur technische, sondern auch ästhetische Qualitäten bieten.

Der Design-Leitsatz "Form follows function" wird dem amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough zugeschrieben und ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts belegt. Was ich nun zu erwähnen habe, ist das Brückenbaumuseum in Edelsbach. Eine Kollektion realer Brücken im Freien, plus eine atemberaubende Vielfalt von meist sehr präzisen Brückenmodellen unter Dach.

Dabei kann man sich von zweierlei überzeugen. Einerseits ergeben leistungsfähige technische Lösungen von sich aus so manche Schönheit. Das kennen wir auch aus der Natur, wo uns vieles visuell beeindrucken kann, das nicht die Funktion des Schmuckes hat, sondern pure Funktion ist. Andrerseits kann man sehen, daß Menschen oft auch bei simplen Aufgaben, wo einfach eine Funktion sicherzustellen ist, das Bedürfnis haben, dem ganzen noch eine immaterielle Funktion, die der Schönheit, beizugeben.

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Das ist übrigens auch ein Themenfeld, mit dem ich aktuelle Debatten über Fragen der Kunst und der Kulturpolitik verbunden sehe. Ästhetische Qualitäten und ästhetische Erfahrungen sind Wahrnehmungsangelegenheiten. Wir Menschen haben ein komplexes Sensorium und ein dazu passendes Seelenleben. Es ist also gewiß nicht einerlei, ob wir uns auf immaterieller Ebene bloß Ramsch gönnen, oder ob wir ein Leben nutzen, um Geschmackserfahrungen zu machen, die eben... unseren Geschmack verfeinern.

Verstehen Sie mich recht, das ist kein Statement gegen Trash. Ich muß auf meinem Recht zur billigen Unterhaltung bestehen, muß darauf beharren, daß mir das ganze Spektrum offensteht. Ich laß mir bloß keinen Trash als exquisites Gut andrehen...

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