24. Juli 2016

"Die Lüge hat sich wahrgelogen."

Das sind Worte von Philosoph Günther Anders, ohne dessen medienkritische Texte ich nicht so gut durch die letzten Jahrzehnte gekommen wäre. Norbert Bolz, dem ich dazu auch wichtige Anregungen verdanke, meinte: "Die technisch reproduzierten Bilder gehen der Welt voraus, die sie abzubilden scheinen." So zeichnet sich schon eine kleine Skizze ab, was mit Boulevard gemeint sein könnte.

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Vilém Flusser, dessen Buch über die Schrift mir nach wie vor wichtig ist, befaßte sich seinerzeit mit einer "digitalen Scheinwelt", welche er als "virtuelle Welt" beschrieb. Virtuelle Welten und allerhand Arten der Virtual Reality werden längst nicht mehr als Scheinwelten empfunden.

Momentan erleben wir gerade, wie ein populäres Spiel, Pokémon Go, als Augmented Reality unseren Alltag durchdringt, indem es zum Beispiel aus der räumlichen Geschlossenheit von W-Lan-Parties in den öffentlichen Raum hinausführt: [link]

Ich vermute, wir werden schon in absehbarer Zeit feststellen können, daß diese Applikation, gerade noch ein Spiel, bald sozialer Ernst, sich als eine nächste Kommuniaktions- und Interaktions-Art auch noch für ganz andere Anwendungen empfehlen wird.

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(Quelle: http://www.pokemongo.com/de-de/)

Der Slogan "Nichts wie raus und go!" ist in seiner Mehrdeutigkeit irreführend. Er deutet an, Menschen würden nun aus den Häusern ins Freie gelockt, würde durch dieses Spiel also dem entkommen, was Platon in seinem "Höhlengleichnis" in der "Politeia" beschrieben hat; die älteste uns überlieferte Medienkritik: [link]

Doch das Spiel führt in etwas hinein. Wie sehr das zutrifft, begreift man sofort, wenn man Spielende auf unseren Straßen beobachtet. Einige davon gehören schon zu einer gefährdeten Art, weil sie in etwas sind, das ihre Aufmerksamkeit bindet, während der öffentliche Raum samt seinen Verkehrslagen für unaufmerksame Menschen jede Menge Gefahren birgt.

Aber ich war beim Thema Boulevard. Ich halte für möglich, daß Pokémon Go beizeiten dort neue Bedeutung gewinnt, wo traditionelles Fernsehen eben zu enden begonnen hat. Das macht die Medienkritik von Günther Anders keineswegs hinfällig. Er hatte sich mit Radio und TV befaßt.

Diese Medien sah er in einer Wechselwirkung mit einem "pausenlosen Hunger nach Konsum" des Menschen. In "Die Antiquierteit des Menschen" konstatiert er einen "horror vacui" (Aristoteles) des Menschen, eine Scheu vor der Leere. Das alles kulminiere, so Anders, in der "Angst vor Selbstständigkeit und Freiheit".

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Um nun "gegen das Nichts abgedichtet zu sein", müsse "jedes Organ besetzt sein". Fällt Ihnen dazu etwas ein? Etwa das Wort Berieselung? Warum kann ich mich nur in privaten Räumen dagegen abschirmen, daß ich permanente mit visuellen Botschaften und mit Hörbotschaften bedrängt werde?

Warum finde ich kaum eine Gastwirtschaft, in der ich von Kommerzradio und TV-Sendungen verschont bleibe? Warum werden Innenstädte so mit Schildern und Plakaten zugepflastert? Warum reißen die Social Media Löcher in meine Privaträume, um mich auch dort mit Botschaften bestürmen zu können?

Der "pausenlosen Hunger nach Konsum" in der "Angst vor Selbstständigkeit und Freiheit" empfiehlt mir eventuell in meiner Hoffnung "gegen das Nichts abgedichtet zu sein", es müsse "jedes Organ besetzt sein".

Was wir eben noch Neue Medien nannten, uns aber längst nicht mehr neu ist, was da als einst neue Technologie die Adaptionsphase bei uns Menschen schon durchlaufen hat, bietet uns diese Möglichkeit immer müheloser an.

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(Quelle: Facebook, 24.7.2016)

Momentan boomen zum Beispiel "Neue Patrioten", die sich jeglicher Debatte ihrer Ansichten entziehen, die darauf losbehaupten, wie es ihnen gerade einfällt, die Begründungen ebenso verweigern wie die Nennung von Quellen.

Wer ihnen nicht zustimmt, gilt als "realitätsfern", wird oft auch ansatzlos beschimpft. Die "Angst vor Selbstständigkeit und Freiheit" generiert merkwürdiges Personal!

Wissen muß nicht mehr erarbeitet, erworben werden, es wird einfach simuliert. Eine interessante Aufgabenstellung für die regionale Wissens- und Kulturarbeit. Siehe dazu auch unseren Themenschwerpunkt Netzkultur | Medienkompetenz beim heurigen Kunstsymposion: [link]

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