18. März 2016

Ich hab mich über all die Jahre nicht aufraffen können, zum Trivialen und zum Banalen hin halbwegs deutliche Grenzen einzurichten. Allerdings haben mich in solchen Fragen stets jene Spießer behelligt, die bis heute vor Beuys auf Knien herumrutschen und sich seine tote Haut als Mäntelchen überziehen, damit sich doch noch ein Stück Distanz zum Pöbel ausgehen möge, obwohl ja nach wie vor gerne hergebetet wird, jeder könne und möge daher Künstler sein.

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Doch in diesen Angelegenheiten sind Felder besetzt, um Hierarchien zu sichern, da kommt man leicht ins Staunen, wie waffenstarrend einem manche Herzchen auf solchen Feldern entgegentreten, um jegliche Bewegung im Gefüge zu verhindern.

Was hätte ich bloß gemacht, wäre nicht die Pop-Kultur mit aller denkbaren Wucht in unsere Fundamente gefahren? Es war nämlich das Terrain, von dem ich stamme, durch Ideologen und Bildungspersonal besetzt, die zu okkupieren versuchten, was man sich unter Volkskultur vorstellen könnte.

Volkskultur mußte doch mindestens das sein, was ich mir im Sozialbau aneignen konnte, wenn ich dem folgen durfte, was mich gerade interessiert und bewegt hat; ohne Belehrungen und abschätzigen Blicken ausgesetzt zu sein. Das sah man freilich während der 1960er Jahre im Steirischen Volksbildungswerk und ähnlichen Einrichtungen ganz anders.

Ganz klar, ein Volk muß gebildet werden. Wie kurios, daß es der selbe Landespolitiker war, der das Grazer Forum Stadtpark ermöglichte und der als Obmann des Steirischen Volksbildungswerkes dem Steirischen Liederbuch 1961 in seinem Vorwort folgende Widmung verpaßte:

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Hanns Koren im "Geleit" zum Steirischen Liederbuch

Hanns Koren deckte also den ganzen Bereich ab, wurde Schlüsselfigur, Mentor, schließlich auch Leitfossil einer steirischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wir waren also im Zugang zur sogenannten "Hochkultur" schon mit sprachlichen Barrieren belastet, denn dieses Wort Hochkultur ist eine Zumutung.

Was uns leicht zugänglich war, ist dagegen vielfach als "Schmutz und Schund" denunziert worden. Und die Volkskultur wurde uns von akademisch gebildetem Personal ebenso gebügelt, aufgewertet, aber eben nicht uns überlassen. (Kleiner Enschub: Macht das deutlich, wie empfänglich wir durch solche Zurichtungsversuche für die Musik schwarzer Sklaven wurden?)

Ich wußte vorerst nichts von Leuten wie Canetti und daß so einer schon mit 17 Jahren einigermaßen leidenschaftlich die Klassiker der Antike las. Hätte ich davon gewußt, wäre ich dem vermutlich zwischen Ratlosigkeit und Verachtung begegnet.

Man muß über Europa schon allerhand herausgefunden und davon viel begriffen haben, um das Steirische Liederbuch beim Durchblättern als das Handbuch einer ideologischen Durchrekrutierung zu erkennen.

Ich habe als Kind freilich nicht erkennen und begreifen können, daß die Härte der kulturellen Konzepte, wie sie von Opinion Leaders und diversen Türhütern gesichert wurden, in einem vitalen Zusammenhang mit jener physischen Gewalttätigkeit stand, die mir vertraut war.

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1983: MARTIN & MICH KRUSCHE [GROSSE ANSICHT]

Auf welche Art das kulturell kaschiert wird, hatten meine Leute unter Goebbels gelernt. Die Unterhaltungsindustrie, wie wir sie kennen, ist eine Erfindung der Nazi-Barbaren. Wir wuchsen fern von Wien auf, waren Teil eines proletarischen Milieus, also vom Fin de Siecle unberührt, ganz zu schweigen von Charleston und Kokain, von kühnen modischen Momenten und provokanten Frauen aus den Metropolen Europas.

Ich konnte all das als Kind nicht dechiffrieren. Ich hab dieser Tage in einer kleinen Reflexion über Volksmusik geschrieben: "Wir sind die Brut der Tyrannis..."  [Quelle] Es war eine Kultur des doppelten Verbergens.

Einerseits mußte bemäntelt werden, was meine Leute an sich selbst erlitten haben und worin sie individuell zu Tätern wurden, während sie noch unter dem Hakenkreuz lebten. Andrerseits mußte verborgen werden, was das an ihnen angerichtet hatte und wie sie es uns aufbürdeten.

Ich selbst kann bis heute eigentlich nur drumherum reden. Das erschöpft sich dann in einigen Standardsätzen, aus denen nichts weiter wird. Sätze wie "Ich komme aus einer sehr gewalttäigen Welt". Oder "Ich habe keine Mißhandlung vergessen und ich bin darüber vollkommen unversöhnlich".

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1985: "WIR SIND DIE, VOR DENEN KOLLERITSCH UNS GEWARNT HAT."

Ich habe über die Jahrzehnte wenigstens einen Satz gefunden, in dem das alles Platz hat, der quasi eine handliche Hülle geworden ist: "Ich wurde zornig geboren und es hat nie aufgehört". Im Rückblick habe ich wenig Zweifel daran, daß bei solchen Vorgaben ein Weg in die Kunst zu den wenigen Optionen gehörte, sich nicht selbst über wachsende Gewalttätigkeit von so manchen Traumata befreien zu wollen.

Um nun zur eigentlichen Sache dieser aktuellen Erörterung zurückzukommen, ich mußte natürlich erst einmal jene Zugänge nehmen, die mir leicht erreichbar waren. Das waren Zugänge einer Massenkultur, die vermutlich kaum mehr wollte, als der Gin in der Branntweinkrise Englands im 18. Jahrhundert, und später so manche Entlastungsstragie, durch die der Pöbel ein elendes Leben ertragen konnte. (Damals konnte man vom Gin billiger satt werden als von Brot.)

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1985: $UBWAY PRESS LITERATURNACHT IM GRAZER KIZ [GROSSE ANSICHT]

Wir mußten als Kinder freilich zuerst einmal das Elend unser unerlösten Eltern ertragen. Wie schon angedeutet, für mich besteht kein Zweifel, daß in unseren Breiten das Nazi-Regime samt seiner Mordmaschinerie das erste bedeutende Beispiel einer effektiven Unterhaltungsindustrie gewesen ist.

Judenhatz und Autorennen. Straßenkampf und Weltenbrand. Marschmusik und Volksempfänger. Wehende Fahnen. Klingendes Spiel. Rauben, Vergewaltigen und Töten. Lauter solche Ungeheuerlichkeiten. Und dann das, womit ich den vorigen Eintrag eröffnet hab: Blues had a Baby. They named it Rock and Roll.

-- [Konvergenz: Pop] --

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