5. März 2016 Eigentlich leitet sich alles von Dürer her. Wie solle es zum Beispiel ohne
Dürer zu Heavy Metal gekommen sein? Die Tattoo-Künstler unserer Lande, was
wären sie ohne Dürer? Am Anfang war Dürer.
Sie meinen, ich scherze? Da täuschen Sie
sich! Ich hab nun etliche Stunden mit Graphic Novelist Chris Scheuer verbracht. Der konnte
zeichnen, bevor er schreiben konnte, womöglich sogar bevor er sprechen konnte.
Was zeichnete er als kleines Kind? Er kopierte
Arbeiten von Dürer, um zu begreifen, wovon dessen Grafiken handeln. Zeichnen ist für
Scheuer wie für uns das Atmen. Natürlich atmet er auch. Zusätzlich. Man hat beim
Einatmen einen anderen Strich als beim Ausatmen. Das ist wie Bogenschießen.
Es bedarf manchmal einiger Vorbereitung, um
sich ein Thema zu erschließen. Aber dann, wenn das Zeichnen beginnt, wird nicht mehr
gedacht. Dann müssen alle Dünkel ausgeräumt werden, ist jedes Vorwissen zur Seite zu
schieben.
Zeichnen ist ein magischer Akt. Das bestreitet
Scheuer gar nicht. Alles weitere, was eventuell Nimbus erzeugen könnte, lehnt er ab,
weist er von sich.
Auch wenn wir miteinander schweigen, sind wir
völlig einig, daß bei all dem die Kunst eine Rolle spielt. Doch dieser Umstand wird
nicht plakatiert, wird nicht von Herolden verkündet, ist überhaupt keine besonders
erwähnenswerte Tatsache, sondern ist einfach so.
Wer davon weiß, weiß es ja ohnehin. Wer
davon nicht weiß, ist auf unsere Überlegungen nicht angewiesen und steht ohnehin
knietief in einer Welt, die pure Fülle ist. Da kann man sich doch selbst suchen, was man
braucht, kann alles gut aufgehoben wissen, was man nicht braucht, denn eben das wird
vielleicht anderen Leuten nützlich sein.
Es kann also über unsere gemeinsamen Stunden
keinen Traktat geben, keine Resolution, die etwas erklärt. Damit mag deutlich werden, wie
wesentlich dieser Flow ist, in den man immer wieder gerät, wenn man sich solcher
Arbeit hingibt, dieser oder anderer, das ist eigentlich vollkommen nachrangig.
Flow meint einen Zustand des "In-einem-Ablauf-Seins",
wie das Mihály Csíkszentmihályi beschrieben hat. Wichtig ist aber auch die hier
angedeutet Hingabe. Sich also mit Ausdauer und Emotion einer Sache, einer Aufgabe
widmen, egal, wie lang des nötig ist.
Darin liegt ein weiterer Grund, sich in seiner
Profession nicht über andere Professionen erheben zu wollen. Auch wenn unsere konkrete
Symbolarbeit von so anderer Art ist, wie etwa das Herstellen von Möbeln oder wie das
Erbringen von Dienstleistungen, schaffen solche Aspekte Augenhöhe.
Es geht um das Maß der Hingabe, um die
inneren Vorgänge, woraus sich in Summe auch jene Sinnstiftung ergibt, deren
längerfristiger Mangel jeden Menschen beschädigen würde.
Hier schimmert eine meiner Intentionen für
diese Serie "Handfertigkeit und Poesie" durch, deren ersten Abend im
ersten Block Chris Scheuer eben ergeben hat. In dieser Kooperation des Leibes und
immaterieller Instanzen eines Menschen tut sich etwas auf, löst sich etwas ein, wonach
sich viele verzehren.
Allerdings schaffen unterschiedliche
Talent-Lagen ganz unterschiedliche Ausgangspunkte. Wer diese hierarchisch anordnen
möchte, ist längst mit etwas anderem beschäftigt als mit der Kunst und ihren
Möglichkeiten.
Was einem der eigene Talent-Fundus erlaubt,
wird sich in der jahrelangen Praxis färben, ausformen, verfeinern, so oder so zeigen.
Scheuer stimmt meiner "Bach-These" zu. Innerhalb der Conditio
humana sind auch sehr extreme Positionen möglich, aber nicht für alle erreichbar.
Was möglich ist, das trifft eben einige und
andere gar nicht. So mußte irgendjemand Johann Sebastian Bach werden, egal wer;
eigentlich nur deshalb, weil es, wie erwähnt, im Bereich der Conditio humana
liegt, also weil es möglich ist. Doch es wäre töricht, Bach werden zu wollen.
Eine ziemlich sinnlose Pose.
Es läßt sich also zusammenfassen, daß
Kunstpraxis eine sehr angenehme Art ist, weite Teile eines Lebens zuzubringen. Es ist auch
angenehm, all das gelegentlich zu erörtern, mit anderen zu debattieren. Allerdings eher
im Sinne einer Selbstvergewisserung und nicht, um etwas zu verkünden.
Wo immer die Befassung mit Kunst in
Heislversprechen mündet, bin ich weg. Ich ahne die Art der Momente, in denn Scheuer
mutmaßlich Jimi Hendrix zitieren würde: "'cuse me, while I kiss the sky!"
(Er wären dann wohl auch weg.)
Wir bleiben doch stets auf eigene Art der
Magie ausgeliefert. Was einen mit anderen verbindet, ist womöglich die Frage nach dem
Stück Boden, das jemand um sich herum befestigt. Ein Stück Terrain, das sich mit anderen
Fragmenten zu jenen Gebieten fügt, auf denen die Barbarei keine Rechte hat, auf denen die
Fragen nie versiegen, auf denen hinter jedem Horizont ein weiterer liegt. So ist die
Kunst... mutmaßlich.
Das sind Gebiete, auf denen Posen nichts
bewirken und selbst das Gediegene von jedem Wetter verweht wird. Dort zu leben hat ein
paar wenige Bedingungen. Eine davon ist im Fundament jedes Handwerks angeleg. Sie lautet: Eine
Sache um ihrer selbst willen gut machen zu wollen.
.-- [Doku des Abends] [Handfertigkeit und Poesie]
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