22. Jänner 2016 Ich halte mich für einen robusten Kerl, den umzuhauen schon nach Anlauf und
wenigstens einer stumpfen Waffe verlangt. Weite Abschnitte meiner Biographie waren mit dem
Motto "Nur keinen Streit vermeiden!" überschrieben. Früher dachte ich
gerne, ich sei wütend geboren worden und es habe nie aufgehört.
Dieser großspurige Auftakt soll als
Kontrastmittel dienen, um deutlich zu machen, wie irritiert ich war, als mich kürzlich
jemand allein durch sein ungebremstes Reden erschüttert, umgehauen hat. Ich halte mich
heute für einen weit moderateren Menschen als ich es in jüngeren Jahren gewesen bin. Das
erscheint mir als Vorteil.
Aber ich komme aus einer Welt, in der es
erhebliche Gewalttätigkeit gegeben hat. Diese Erfahrung nützt mir heute, von
Schäbigkeiten nicht so überrascht zu sein, daß es mich lähmen oder in den Graben hauen
könnte, wenn ich unversehens... Das dachte ich mir so.
Also noch eine Schraubendrehung am
Referenzsystemchen für diese Geschichte, die sich eben erst ereignet hat. Wenn ein Mann
jenseits der Sechzig über die Kanzlerin seiner Heimat nur als "dreckige
Ost-Muschi" redet, muß man eigentlich die Unterhaltung sofort abbrechen oder
sich auf einiges gefaßt machen.
Gäste aus Deutschland. Ich betone das Wort Gäste,
weil ich mich einem Haus verpflichtet fühle, das für eine größere Geschichte steht. Da
konnte ich mich nicht sofort aufraffen, einen Gast zu brüskieren, besser noch, ihm die
Tür zu weisen, denn ich bin nicht der Hausherr.
Daß es Deutschlands größter Fehler gewesen
sei, die DDR einzugliedern, ein Land der Spitzel und Faulenzer, die sich bloß ihre Eier
kraulen, wollte ich nicht kommentieren. Wir kennen das Kräftespiel, in dem sich
Modernisierungsgewinner mit aller Abschätzigkeit gegen Modernisierungsverlierer
abgrenzen, sich am liebsten gegen sie abschotten würden, nicht daran denken, ihren
Wohlstand mit ärmeren Menschen zu teilen.
Aber dann kam ein Statement, wie ich es
Jahrzehnte nicht mehr gehört habe und wie es mir jenseits privater Kreise undenkbar
erschien. Nachdem der Mann offengelegt hatte, auf wen er alles schießen würde und wie
ärgerlich es sei, daß er deshalb ins Gefängnis müsse, falls ein Flüchtling seine
Tochter anfassen wollte... (Unter uns, das möchte ich ja sehen, was einer schießt, der
damit keine Erfahrung hat. Das sind lächerlich große Töne.)
Es mißfällt mir sehr, wenn jemand nicht
begreift, in welcher Zeit und in welcher Welt er lebt. Aber ich verstehe, daß einen diese
Dinge verärgern können, diese Ratlosigkeit im Unverständnis. Ich habe kein
Verständnis, wenn jemand seinen Weltekel benutzt, um möglichen Selbstekel zu verdünnen
und sich solcher Gefühle entledigt, indem er sie anderen um die Ohren schlägt. Doch ich
verstehe, wie es dazu kommen kann.
Ich habe freilich überhaupt kein Einsehen,
wenn sich jemand daraus eine Verachtung gegen andere Menschen genehmigt, die als blanker
Haß erblühen darf. Erstens ist das ein inakzeptables Verhalten in menschlicher
Gemeinschaft und zweitens sind das genau die Emotionen, mit denen man die Fundamente einer
Schlachtbank betoniert.
Der Mann sagte mit einigem Eifer: "Hitler
hat vor allem einen Fehler gemacht. Er hat die Juden leben lassen." Pause. Ich
war sprachlos. Tiefes Atemholen. Es folgte: "Der Jude ist die Geisel der
Menschheit."
"Kann ich nicht nachvollziehen",
erwiderte ich, während ich nachdachte, was jetzt zu tun sei. Ich bekam noch eine
ausführliche Begründung dieser Ansichten vorgelegt, die ich mir hier wiederzugeben
erspare.
Es ist ohnehin ein allgemein verfügbarer
Stereotypen-Schatz, der da abgehandelt wurde. Bemerkenswert, wie detailgenau auch die
Formulierungen solcher "Wanderlegenden" übernommen werden; ganz im Kontrast zum
sonstigen Erzählstil des Mannes.
Da ich, einigermaßen textversessen bin, habe
ich natürlich ein geübtes Ohr, was Nuancen in Sprache und Text betrifft. Ein
Mann, zwei grundverschiedene Tonlagen. Bemerkenswert!
Das heißt, der Mann hatte sich mit populären
Floskeln und Stereotypen eingedeckt, um seine Differenzen mit der Welt auf möglichst
simple Art an gut eingeführten Feindbildern abzuarbeiten. Billiger geht es nicht.
Dem brauche ich ja auf diskursiver Ebene nicht
zu begegnen, denn für Zurufe von Gegenpositionen aus muß er sich gewiß immun machen,
damit sein schützendes Geländer gegen was auch immer stabil bleibt.
Aus etwas Abstand betrachtet scheint mir klar:
Er darf natürlich denken, was er will, er soll auch im privaten Kreise sagen können, was
ihm beliebt. Diese Dimension von Meinungsfreiheit erlaubt keine Einengung.
Aber wo derlei Ausfließen von Ekel sich
jenseits privater Momente in dieser oder jener Öffentlichkeit breit macht, sich eventuell
auch medial verströmt, sind Einwände unverzichtbar, brauchen wir einen breiten
gesellschaftlichen Konsens, daß so ein Verhalten nicht toleriert werden kann.
Die Gründe für solche Notwendigkeit des
Einwandes sind vielfältig. Einige davon sollten leicht nachvollziehbar sein. Ein
Hauptgrund liegt darin, daß die Brutalisierung einer ganzen Gesellschaft, ist sie erst
einmal in Gang gekommen, schnell Quantensprünge macht.
In solch einem Galopp der Menschenverachtung
fallen ganz zügig Mauern und Barrieren, die uns alle schützen. Wer demnach
solche Herrenmenschen-Anmaßungen für harmlos hält und Einwände für unnötig,
gibt jene Konventionen der Mitmenschlichkeit preis, unter deren Schutz wir ausnahmslos
leben. Außerhalb diese Konventionen herrscht Faustrecht.
Übrigens, einer der Reisegefährten des
Mannes sagte beim Abschied: "Ich entschuldige mich für alles, was er gesagt
hat." Wir sind also noch nicht so weit, daß derlei Auftritte grundsätzlich als
akzeptabel hingenommen werden.
Der Vorfall gibt mir den Anlaß, mich für die
Zukunft zu wappnen, um mit geringer Reaktionszeit auf eine adäquate Antwort zu kommen,
falls ich wieder einmal versehentlich in einen Herrenmenschen laufe.
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