19. Jänner 2016

Slavoj Zizek ist mit Peter Sloterdijk einig, daß wir zu den "eineinhalb Milliarden Globalisierungsgewinnern" gehören, die eine "Kuppel" bewohnen, um deren Abschottung wir uns gerade bemühen. Zizek notiert: "Dreimal so viele stehen draußen vor der Tür."

Ich hatte gestern mit einem Freund erörtert, was denn nun zu tun sei. Wir führen solche Gespräche wohl auch mit Blick auf unsere inzwischen erwachsenen Kinder. Fast nichts an dieser Welt ist noch so, wie es in unseren eigenen Kindertagen war.

Ich finde die anschwellende Geschwätzigkeit des politischen Personals immer unerträglicher. Wie borniert, wie arrogant und herablassend auch der eigenen Historie gegenüber, muß man denn sein, wenn man etwa verlautbart "Wir sind nicht das Sozialamt der Welt!"?

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Ich darf heute bei zahlreichen Spießern und Mittelschicht-Trutschen, die einen Gutteil des anwesenden Bildungsbürgertums ausmachen, annehmen, daß ihnen selbst kursorische Geschichtskenntnis eher fehlt und daß ich nicht voraussetzen kann, sie wüßten auch nur irgendetwas über Europas Kolonialzeit.

Wissen sie dann wenigstens etwas, wie vor allem England, aber auch Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg die kühnsten Grenzziehungen in vielen jener Ländern durchführten, von denen wir heute Probleme entgegennehmen?

Etwas stimmt freilich. Ja, wir sind nicht das Sozialamt der Welt, sondern waren -- ganz im Gegenteil -- über Jahrhunderte eine der übelsten Räuberhöhlen der Welt. So betrachtet ergibt der Satz etwas Sinnvolles.

Zuletzt waren es die Generation meines Vaters und die meiner Großväter, welche im Gefolge vaterländischer Kräfte die Welt nach Kräften ausgeplündert, Menschen versklavt, mißbraucht, massakriert haben. Die Konsequenzen sind bekannt und wir bis heute Nutznießer jener Raubzüge.

Aber auch das muß man nicht wissen, wenn man bloß jung genug ist und erfahren durfte, daß meine Generation hierzulande nicht mehr bereit ist, den eigenen Kindern ein zeitgemäßes Bildungssystem zu bieten.

Doch etwas kann selbst der letzte Depp unter Aufbietung aller Kräfte nicht ignorieren: Wir haben im eigenen Land die bäuerliche Landwirtschaft mit einer industriellen Landwirtschaft und mit einer destaströsen Preisgestaltungen überrollt, bei vielfacher Preisgabe guter Böden und sauberen Wassers in einer weltweit einzigartig fruchtbaren Region.

Das weiß ja kaum noch jemand, was alles bei uns gedeiht, wie oft im Jahr geerntet werden kann, das gibt es so nicht in vielen Weltgegenden. Wir leben auf äußerst fruchtbarem Grund. Um nun unsere Leute in der agrarischen Welt in einigen der letzten Modernisierungsschübe abzufangen, wurde die Landwirtschaft hoch subventioniert und wird es bis heute.

Die so erwirtschafteten Überschüsse haben wir dann über Jahrzehnte in anderen Weltgegenden auf die Märkte geschmissen und so beigetragen, in allen Windrichtungen die Lebensgrundlagen der agrarischen Bevölkerung zu ruinieren.

Daß dann etwa westliche Companies in derart verarmten Gegenden wieder Landwirtschaft betreiben, aber nicht mit Lebensmitteln, sondern mit Energiepflanzen, weil uns das Erdöl für den immensen Energiehunger längst nicht reicht, wäre auch noch zu notieren.

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Ich erspare mir und Ihnen eine Verlängerung der Liste jener Schritte und Taten, durch die wir jene "Kuppel der Globalisierungsgewinner" ausgestattet haben, vor der nun in Wellen Menschen ankommen, denen es zuhause zum Verrecken ist und die vielfach ihren Tod in Kauf nehmen, um vor unserer Kuppel des Wohlstandes stehen zu können.

Wenn dann etwa der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl derzeit apelliert: "Kümmern wir uns gemeinsam um unser Österreich.", lese ich das vor allem einmal als Einladung zur Bewußtlosigkeit in Sachen Zeitgeschichte.

Wer ist wir? Was meint gemeinsam? Was ist unser Österreich? Wessen Österreich soll das sein? Wir verhält sich all das zur Welt, die wir über Generationen ausgeplündert haben, um den Standard zu erreichen, den wir genießen? Propaganda setz gerne allerhand voraus, unüberprüft, meidet die Prüfung, die Frage, meidet Antworten.

Wenn politisches Personal uns in einem der brisantesten Umbrüche unser aller Lebenswelt mit solchen Werbesprüchen verwöhnt: "Grenzen setzen heißt, die Sorgen und Ängste der ÖsterreicherInnen ernst zu nehmen.", mit diesem lackierten, nichtssagenden Geschwafel renommiert, dann ist das ein Alarmzeichen.

Wer im Ernst dieser Lage so handelt, dem ist nicht zu trauen. Wer uns da keinen reinen Wein einschenkt, den Fokus ins Gemütliche verschiebt und uns schuldig bleibt, Sachkenntnis auf der Höhe der Zeit wenigstens erahnen zu lassen, dem ist nicht zu trauen.

Zizek ist ja ein anregender Kulturoptimist. Er meint: "Die Flüchtlingskrise bietet Europa die einzigartige Chance, sich neu zu definieren..." Solche Ansichten sagen mir zu. Nun sollten wir darüber reden, was der Status quo sei und welcher Art eine Neudefinition sein könnte, die darauf halbwegs angemessen reagiert.

Was immer dem politischen Personal notwendig erscheinen mag, ich akzeptiere diese Sprachregelungen nicht, diese Phrasendrescherei, dieses Schönwettergerede im Ausmalen von Gewitterwolken.

Wenn geklärt sein will, was dieses Europa demnächst sein möchte, dieses inzwischen fast unerhebliche Gärtlein am Rande des riesigen eurasischen Kontinents, dieses Protektorat der USA ohne überzeugende eigene Sicherheitspolitik, wenn wir das klären möchten, während eine Reihe von Automatisierungswellen uns Richtung Vierter Industrieller Revolution bewegt, die in zehn bis 30 Jahren alles verändert haben wird, was wir uns unter "Arbeitswelt" vorstellen, dann muß die Sprache dem angemessen sein.

Sprache und nicht Sprücheklopferei. Wer das ignoriert, dem ist nicht zu trauen! Wer auf intellektuelle Selbstachtung verzichtet, dem ist nicht zu trauen!

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