29. Juni 2015Die Unruhe hat uns erreicht. Unsere Dörfer und Täler sind nicht
mehr weltabgeschieden und kein Grundherr zwingt uns, die Welt bloß als das zu erfahren,
was ein Ochsengespann in einer Tagesreise durchmißt.
Im weiteren Horizont erkennen wir, was diese Gegenwart
gekostet hat. Europa genoß einst die Früchte der Welt, hat sich genommen, was zu holen
war. Dafür haben unsere Leute die Zweit- und Drittgeborenen nach Übersee verschickt, um
die überzähligen Esser von vielen kleinen Landwirtschaften wegzubekommen, wo nur die
Erstgeborenen etwas werden konnten.
Sie haben europäische Kriminalität auf allerhand Inseln
entsorgt, bis nach Australien, haben Krankheiten mitgeschickt, haben sich die Welt zum
Handelsplatz gemacht, aber so läuft es längst nicht mehr. Statt bloß die Entsorgten von
einst los zu sein, haben wir nun Ausgezehrte an unseren Stränden, Sterbende in unseren
Vorgärten. Die Welt schickt uns ihre Mittellosen zurück; was uns empört.
Die letzte große Conquista unter Waffen strebten
unsere Väter und Großväter im Zeichen des Hakenkreuzes an. Es mußten sehr viele
Menschen beraubt werden, um diese Landfahrten zu finanzieren, was wir uns noch heute gerne
als eigene Tüchtigkeit gutschreiben, während wir nach wie vor Zinsen dieser Raubzüge
genießen.
Wie konnte jemand annehmen, das werde nie ein Ende haben?
Mir ist schon klar, daß unter meinen Leuten die Unruhe
zunimmt, denn selbst wer dumm, blind und taub ist, spürt inzwischen, daß unsere
Möglichkeiten, auf Kosten anderer zu expandieren, an harte Grenzen geraten sind.
Während der Lauf dieser Dinge uns Flüchtende aus allen
Weltgegenden vor die Füße wirft, erleben wir Attacken aus dem Inneren. Es sind einmal
mehr vor allem zornige junge Männer, die nicht bloß zur Waffe greifen, sondern selbst
zur Waffe werden. Sie töten, wo sich ein lohnendes Ziel findet.
Mit Wachmannschaften ist dem nicht beizukommen. Das wird
wohl nur mit wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmen zu bremsen, womöglich zu lösen
sein. Einstweilen lassen wir uns ja noch an den Nasen herumführen, wie einst die
Untertanen von ihren Fürsten.
Ein Beispiel: Deutschland stabilisiert seine Wirtschaft
gerade auf Kosten der griechischen Bevölkerung, verkauft das den eigenen Leuten einmal
mehr als eine "Verschlagenheit der Südländer", während Europa immer noch
keine ausreichenden Ansätze findet, um eine Steuerpolitik durchzusetzen, die etwa jüngst
verhindert hätte, daß griechische Eliten so hohe Milliardenbeträge aus dem Land
schleusten, davon hätten schon zehn Prozent an Steuern dem griechischen Volk viel helfen
können.
Auch das österreichische Gemeinwesen verliert jährlich
Milliarden durch solche Machenschaften, die Politik kommt nicht voran, das zu unterbinden.
Das gehört für mich zu den erstaunlichsten Leistungen
jener Eliten, so weite Bevölkerungskreise zu bewegen, die Habenichtse zu hassen. Dabei
sind nicht bloß die Vaterländischen für simple Erklärungen zu haben und
schmachten Reiche untertänig an. Es dürfte das gleiche Grundprinzip sein, das die
Feudalzeit trug. Der Lehnsherr vergab die Lehen für treue Gefolgschaft.
Eine Minorität versprach all jenen Menschen Vorteile, die
ihnen dienstbar blieben, um den großen Rest zu bewirtschaften und zu
bedrohen. Dieses Pyramidenspiel lebt davon, daß selbst jene, die keine Vorteile
erringen werden, in der ewigen Hoffnung darauf verharren und sich dabei der Herrschaft
andienen.
Heute zeigen uns die Vaterländischen, daß diese
Glückslotterie nichts an Reiz verloren hat. Was genau versprechen denn die Kräfte der Neuen
Rechten an Lösungen aktueller Probleme? Sie bieten vertraute Bilder an. Symbolisch
einfach zurück ins Mittelalter, wo die Stadt noch eine Mauer hatte, deren Toren man
schließen konnte. Drinnen nur wir mit all unseren Vorräten, draußen die anderen.
Drinnen die Zivilisation, draußen die Wildnis.
Man kann sich dieses Szenario mit kühnen Rittern und edlen
Fräuleins ausmalen, es geht aber auch ein Mad Max-Szenario; das Grundmuster
bleibt gleich und bleibt gleichermaßen entweder ein völlig veraltetes Bild oder eine
unerträgliche Zukunftsphantasie aus dem äußerst vielfältigen Apokalypsen-Schubfach.
Wie viel Selbstermächtigung ermöglicht uns jene
Aufklärung, auf die sich Leute des Westens gerne berufen? Wofür übernehmen wir
Verantwortung?
Ohne Wissenserwerb wird dabei nicht viel gelingen. Eine
alte Idee Europas ist bis heute nicht außer Kraft gesetzt: Die Teilnahme am
öffentlichen kulturellen und politischen Leben.
Das heißt dann für mein Metier, Wissens- und Kulturarbeit
kann sich nicht darin erschöpfen, die Kunst bloß als Anlaß zur Selbstrepräsentation
der Kunstschaffenden zu nutzen.
Kunstveranstaltungen sind ein Appell, sich mit anderen zu
verständigen, um sich darüber auszutauschen, was es bewirkt, wenn man bemüht ist, sich
seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen.
Klingt Ihnen das vertraut? Immanuel Kant nannte das als
Bedingung, um den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu schaffen, sich
seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen.
Niemand hindert uns, sich aus der gebückten Haltung des
Untertans aufzurichten. Aber, wie Kant andeutete, es braucht freilich Mut und den
Entschluß dazu.
-- [Das Kunstsymposion]
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Die Grafik mit der Augenpartie
stammt von WiGL-Desing und ist eine von mehreren Ausdrucksvarianten für unser
Artefakt im Projekt "Fiat Lux": [link] |