27. Juni 2015Wann immer ich meinen ersten Kaffee vor sechs Uhr morgens habe,
bezaubert mich die Stille hier mitten in der Stadt. Früher hatten mir Nachbarn erzählt,
man würde meine harten Anschläge beim Verfassen von Texten im Hof hören.
Ich bin also zu manchen Tageszeiten hier die lauteste
Kreatur. Und ich bin eigentlich längst wieder für eine Komplexitäts-Krise fällig. Das
hab ich lange an mir selbst nicht verstanden. Dieses Steckenbleiben im Nachdenken, wenn
ich in überschaubaren Zeitfenstern zwischen zu vielen sehr unterschiedlichen Themen
pendle.
Zu diesen Themen zählt: Facebook lehrt mich
laufend, wie sehr wir zu einer Empörungsgesellschaft geworden sind. Daran
irritiert mich tief, daß wir gerne ungeklärt lassen, wer nun handeln soll, wenn wir alle
mit dem Empören beschäftigt sind.
Worum es geht? Wenn die Empörung das Ergebnis meiner
Betroffenheit ist, erledigt das gar nichts. Wenn die Empörung ein Antrieb für eigenes
Handeln ist, kommen Dinge in Bewegung.
Ich bin mit Leuten verbunden, die sind inzwischen Champions
im Klären, was bei anderen falsch läuft und worin sie ihr Tun ändern sollten.
Hat das je funktioniert? Sind wir selbst dem Charme der Belehrung erlegen, als unsere
Eltern, die teils ziemlich harte Leute waren, mit uns so verfahren wollten?
Nicht daß ich wüßte.
Bedeutet nun das Einstehen für eine pluralistische
Gesellschaft, daß wir auch jene an unserer Seite akzeptieren sollten, die uns Verachtung
auslösen? Ich vermute, das muß gelingen.
Wir gehören zu den ersten Generationen, die in großer
Freiheit und ziemlich gefahrlos eine Vorstellung entwickeln konnten, was kulturelle
Hegemonie bedeutet, um sich dagegen auf breiter Ebene zu verwehren.
Wir haben dafür historische Vorbilder in den Arbeiter- und
Frauenebewegungen, bis hin zu den Internationalen Brigaden, die in Francos
Spanien gegen den Faschismus kämpften. All denen war es nicht so bequem überlassen,
hegemoniale Kräfte anzufechten.
Wer mir heute leichtfertig vom Faschismus kräht, weiß
vermutlich kaum etwas darüber. Wir haben es mit einer völlig anderen Gemengelage zu tun.
Während der Faschismus seine Gefolgschaft dort fand, wo weitreichend großer Mangel,
teilweise Not herrschten, finden heute die Vaterländischen ihre Klientel im
Aufeinandertreffen von Überfluß und Mangel.
Unter den jungen Schreihälsen sehe ich dralle Party-Kinder
neben den vom Verzicht gezeichneten Arbeitslosen, etliche darunter von so wenig Bildung
abgelenkt, daß ihnen ganz simple Bilder reichen, um zu klären, warum andere an ihrem
Unbehagen schuld seien.
Ich habe erst kürzlich wieder nachlesen dürfen, welche
obszönen Vorstellungen in diesen Früchtchen schlummern. Zum passenden Anlaß kommen dann
solche sadistischen Phantasien vom Foltern und Töten heraus.
Ich frage mich meist, ob sie es selbst ausführen würden.
Was ich an Werkzeug im Haus hab, würde völlig genügen. Blumendraht. Ein Hammer. Einige
größere Nägel. Eine Kombizange. Ein Seitenschneider. Eine Bohrmaschine.
Was ist also noch in ihnen, außer die Füllung einer
großen Klappe? Und was möchten wir dem gegenüberstellen? Die Betonung liegt auf
"gegenüber", denn ich sehe keinen Nutzen, solche virtuellen Folterknechte
direkt anzusprechen.
Das sind ja -- vor allem anderen -- die gängigen
Allmachtsphantasien jener zu kurz geratenen und zu kurz gekommenen Spießer, die schon vor
hundert Jahren das Personal für so manche unmenschliche Zusammenrottung ergaben.
Das zu beklagen ist eine leere Geste. Dem andere
Verhältnisse gegenüberzustellen bleibt die interessantere Herausforderung. Dazu muß man
sich freilich auf das Gemeinwesen einlassen und sich darin eine aktive Rolle suchen, statt
via Web zwo über die Schlechtigkeit der Welt zu räsonieren und sich dabei
selbst leid zu tun. |