23. Juni 2015

Diesmal war es nicht der Sommerregen, durch den auf dem Boulevard bunte Blüten aller Art ersprießten. Blut, Schweiß und Tränen sorgten dafür. In der Antike schien noch klar, daß gute Tragödien von Dichtern wie Aischylos oder Sophokles stammen mögen. Für den Circus Maximus der Gegenwart reicht freilich der Lokalchef der Steirerkrone, in dessen Windschatten sich so manche Hobbykraft ereifert, Blüten zu gebären.

log2130.jpg (33024 Byte)

Wenn ein Chef-Orakel einen „Verdacht" auf die Eins wuchtet, den schließlich jeder Depp auch hegen kann, aber hoffentlich keine seriöse Quelle zum jetzigen Zeitpunkt verlautbart hat, dann ist das ein enormer Untergriff, um die Spannungsabfuhr des Pöbels zu kitzeln: „Amoklauf war genau geplant". (Was für eine Kanaille, wer so headlined!)

Wir können sowas aber auch privat, nein, doch öffentlich, denn das Web ist ein Massenmedium.

Soziale Netzwerke verbinden Menschen; oft auch jene, die nichts miteinander zu tun haben möchten. So bescherten mir gemeinsame Kontakte auf Facebook eben kuriose Post, die auf ein Posting der letzten Tage verweist, in dem ich von meinem Bruder gewürdigt werde.

Ich habe mich öffentlich nie darüber geäußert, was uns trennt, werde es auch weiter so halten. Aber das Posting verdient Aufmerksamkeit, denn es ist eine Perle jener Spießer-Kultur, die sich in meinem Milieu währen der letzten Jahrzehnte entfaltet und etabliert hat.

Auslöser für dieses Textchen war offensichtlich die Grazer Amokfahrt. Wie so viele Voyeure hat sich auch mein Bruder in den Kreis der Betroffenen hineinreklamiert: „Samstag, Wahsinnstag. 7.30 bis 10.30. Gekillt hat mich, was ich gesehen habe. War vielleicht 20 Sek hinter dem Wahnsinnigen unterwegs, konnt ich nicht verstehen, was ich sah."

So nahe (20 Sekunden Abstand!) sind in ihren schwülen Phantasien sonst nur Profis der Boulevardpresse am Geschehen, denn wer tatsächlich getroffen wurde, schreibt sich ja nicht anderntags via Massenmedium in das Zentrum der Katastrophe. Aber wie schon Hace Strache das Ereignis für seine Selbstdarstellung zu nutzen wußte, tun es ihm viele Einheimische gleich. Geschenkt!

Die öffentlich einsehbare Betroffenheitsprosa meines Bruders auf Facebook hat mehrere Kommentare ausgelöst. Einer davon lautet: „das könnt der martin geschrieben haben..."

Ich möchte hoffen, daß dieser Vergleich keiner Textprüfung standhält, aber er war wohl als Kompliment gemeint. Das mochte mein Bruder offenbar nicht auf sich sitzen lassen und antwortete:

„Nein, das konnte er noch nie. Dazu müsste er an die Front. Damit meine ich, da ist der nicht so oft. Er formuliert Berichte und peppt sie auf. Als wir noch Kontakt hatten waren ein Gutteil seiner Geschichten meine Geschichten. Teilweise auf eine Art und Weise aufbereiten, wie es mir nicht recht war. Das war ihm wurscht, Hauptsache geile Geschichte"

Was genau konnte ich noch nie? An welcher Front müßte ich gewesen sein? Welche meiner Geschichten hatten meinen Bruder und sein "wahres Leben" zum Gegenstand?

„Berichte formuliern und aufpeppen" ist freilich für einen Autor kein Kompliment. „Das war ihm wurscht, Hauptsache geile Geschichte" ergibt überdies für jeden Publizisten eine hochgradige Diskreditierung.

„Geile Geschichten" sind ja Boulevardgeschäft, sind das Brot jener, die sich in Sensationen hineinträumen und darüber dann berichten; etwa mit der plüschigen „Frontberichterstattung", von der im Kielwasser des Grazer Geschehens derzeit so viel im Web zwo auftaucht.

Wenn nun mein Bruder weiter träumt, daß mein literarisches und mein publizistisches Werk ursprünglich in einer mißbräuchlichen Nutzung seiner Biographie wurzle, dann will ich seinen Schlummer nicht stören, denn das ist eine ziemlich unerhebliche Mutmaßung ohne jede Substanz und ohne belegbare Quellen.

Es bleibt an all dem bemerkenswert, wie sich in unserem Milieu inzwischen Spießer und Mittelschicht-Trutschen verabredet haben, Herz, Hirn und Stimme des Landes sein zu wollen. So klingt es dann auch, durchaus boulevardtauglich, aus manchen Liedern und Romanen.

Es stimmt schon, an dieser „Front" war ich nicht, in dieser Schlacht um individuelle Bedeutung, wo sich Restposten des Kleinbürgertums strampelnd gegen die wachsende Marginalisierung abarbeiten. In solcher Sache bin ich widerstrebend, abseits sitzend, was mit einem feinen, etwas antiquierten Begriff als „dissident" bezeichnet wird.

Dazu ist außerdem anzumerken, daß es solides Erbe der Nazi-Ära ist, den Intellektuellen zu mißtrauen, den „Primat der Tat" zu feiern („Was hab ich Schwehrstverletzten geholfen, einige sind in meinem Beisein gegangen."), also das Tun über das Denken zu setzen und jene als „Intelligenzler" zu desavouieren, die Reflexionsarbeit zu ihrem Beruf gemacht haben.

Diese Art der Abschätzigkeit kam nie aus der Mode, was sich schon allein in solcher Kriegsrhetorik offenbart, die das Leben anscheinend als „Schlachtfeld" schildert und das „wahre Leben" eben als „Fronteinsatz". („Ich hab den Kriegsschauplatz Strasse gesehen…")

Letztlich ist genau das aber Inventar jener „Kerl-Kultur", in der einer, wenn er sich ausreichend gekränkt fühlt, zu einer Waffe greift und Menschen umnietet; wahlweise sich selbst. Insofern ist die Nähe meines Bruders zu jenem Amokfahrer auf symbolischer Ebene weit größer als es scheinen möchte. Die eingangs zitierte Betroffenheitsprosa repräsentiert diese Nähe; als ein kulturelles Phänomen.

Solche Zusammenhänge an sich selbst zu begreifen würde freilich verlangen, daß man die Axt des Lebens ab und zu weglegt, um nachzudenken. Das Motto hieße dann eventuell: Statt dem Primat der Tat zu huldigen, lieber einmal Aktion und Reflexion beinanderhalten.

Aber vielleicht ist dies ja wieder eine Ära der „reinen Tatmenschen"; auch wenn es dabei recht schmutzig werden könnte.

Post Scriptchen:
Soll ich diesen Bericht jetzt noch etwas aufpeppen?

-- [In der Ebene] --

[kontakt] [reset] [krusche]
26•15