22. Juni 2015 Ich sage
gar nichts ab. Ich verschiebe keine Termine. Ich gehe selbstverständlich zum normalen
Tagesgeschehen über. Weshalb? Eben hat in Graz die Normalität Pause gemacht. Das
verlangt nach Kontrast, nach einer Gegenposition, nach einer Absage an den Schrecken. Es
verlangt nach dem Leben, an dem man sich erfreuen kann.
Bei genauerem Hinsehen könnte deutlich werden, daß diese
Normalität, als eine Abwesenheit von Gewalttätigkeit, kontinuierliche Arbeit verlangt.
Sie verlangt die Anwesenheit all jener, denen etwas anderes wichtig bleibt, um die
Gewalttätigkeit zurückzuweisen, zurückzuhalten, nach Kräften auszuschließen.
Wer in Betroffenheit erstarrt ist, möge Zeit haben, bis diese Erstarrung abebbt. Wer zu
trauern hat, möge Trost finden.
Ich teile das mit niemandem, weil ich nicht dort war und weil niemand von meinen Lieben
betroffen ist. Ich bin hier, um über der Normalität zu wachen, um hier zur Kontinuität
beizutragen, die ein Bollwerk gegen die Gewalttätigkeit ist und die hilft, den Schrecken
zu bannen.
Ich habe meine Zweifel, wie sehr jene gerettet werden, die das überleben konnten. War
auch nur einmal dein Leben bedroht, bist du in dieser Welt an eine andere Stelle gerückt,
wurdest von solcher Gewalt im einfachsten Sinn des Wortes ver-rückt. Das ist unumkehrbar.
Falls dich eine Fuhre von mehreren Tonnen trifft und durch nichts zu bremsen ist, kann es
so kommen: Der Schrecken macht dich taub, die aus dir hervorbrechende Angst kappt
allerhand Leitungen, dennoch schneidet der Schmerz durch den Körper. Das ist zutiefst
irritierend.
Es wird sich so bald nicht klären lassen, weil dich entweder die Panik um den Verstand
bringt oder die Drogen es tun, das Zeug, mit dem dich ein ankommendes Rettungsteam fluten
wird. So oder so, jetzt wissen deine Seele und dein Leib, daß du stirbst, denn sie haben
keinen Ahnung von zeitgemäßem chirurgischen Personal, von einem gut ausgestatteten
Operationssaal, von einer ausgeschlafenen Crew.
Dein Leib und deine Seele wissen nicht, daß du mit etwas Glück zurückgeholt werden
kannst. Aber dazu muß sich allerhand fügen. Es sollte ein Notarztwagen in Reichweite
sein, eventuell ein Hubschrauber verfügbar, falls der Notarzt sagen wird: Da
greif ich gar nicht mehr hin, den müssen wir ausfliegen."
Weil also weder Leib noch Seele etwas von diesem möglichen Ausweg wissen, werden sich
Dämonen zu dir gesellen, die nie mehr weichen. Es ist wie ein Sprung über eine Klippe.
Da führt kein Weg zurück.
Solltest du all das überstehen, noch zwei Beine haben, Schlaf finden, wieder zu Kräften
kommen, Stunde um Stunde einige Schritte mehr an Reichweite gewinnen, sollte sich deine
Orientierung in der Zeit wieder einstellen und du ein verbindliches Gefühl bekommen, wo
du dich gerade aufhältst, bist du längst auf einem anderen Kontinent zuhause.
Womöglich werden selbst vertraute Menschen nicht mögen, was du geworden bist. Womöglich
wirst du Jahre brauchen, um ein halbwegs sicheres Gefühl zu bekommen, daß du
tatsächlich überlebt hast und nicht bloß trunken durch deine letzten Stunden träumst.
Wahrscheinlich wirst du Jahre brauchen, damit sich dein Bild von dir mit deinem realen
körperlichen Zustand halbwegs in Deckung bringen läßt und du nicht mehr daran
verzweifeln mußt, was dir die Fuhre an Knochen gebrochen und an Fleisch herausgerissen
hat, was alles nicht mehr heilen konnte, weil es weg ist.
Du wirst eventuell der Welt mit einem hartnäckigen Rest an Mißtrauen ausgeliefert
bleiben, nie mehr ohne Schmerzen leben und genau jene Stelle im Körper spüren, wo der
gehabte Schrecken wie eine lächelnde Bestie wohnt, ab und zu das Haupt erhebt, um dich
ohne Leidenschaft anzublicken.
Wenn du Glück hast, werden deine Leute sich auf all das einlassen, aber sehr
wahrscheinlich ist es nicht; zumal eine Rückkehr von diesem feindseligen Planeten des
Kummers dich vielleicht zynisch werden läßt, denn die Wehleidigkeiten jener, die das
nicht kennen, fühlen sich so merkwürdig lau an, und ihre Betroffenheit, wenn sie von
irgendeinem Schrecken berührt werden, schmeckt fahl.
Wenn du von diesem feindseligen Planeten des Kummers zurückkommst, dann nicht in die
gleiche Welt, die du verlassen hast. Und genau in all dem wirst du eine Art Normalität
gut brauchen können, abschnittweise, sichere Zone, Terrain wie ein Asyl, wo du sicher
sein darfst, daß dir keine weitere Überwältigung droht, wo es gelingt, die
Gewalttätigkeit zurückzuweisen, zurückzuhalten, nach Kräften auszuschließen.
Das ist natürlich ganz banal und unscheinbar. Mit solchem Alltags-Kram bin ich gerade
beschäftigt, eher unberührt von dem Getriebe, das diese Amokfahrt offenbar ausgelöst
hat.
Das Foto zeigt ein Objekt von Renate
Krammer
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