13. Juni 2015 Ich bin
mir fremd. Notwendigerweise. Oft hab ich mich neu erfunden, um klären zu können, wo ich
mich gerade mit mir treffe. Oft bin ich nicht der, der ich war. Und dennoch scheine ich
mir vertraut. Identität als das Wunder jeden Tages. Die altvertraute Frage: Woher weiß
ich morgens, wenn ich aufwache, daß ich der bin, der gestern schlafen gegangen ist?
Sie meinen, das sei eine lächerliche Frage? Dann ahnen Sie
nicht, wie fragil diese Kontinuität ist und wie enorm die Leistungen unserer inneren
Instanzen, diese Dauer aufrechtzuerhalten. Allein eine gröbere Schwankung im
Temperaturhaushalt Ihres Körpers könnte schon dafür sorgen, daß diese Kontinuität
aufgebrochen wird.
Ich suche die Fremden und das Entfremdende. Erst in diesem
Kontrast kann ich mich selbst wahrnehmen. An mir würde ich verstummen und blind werden.
Kürzlich waren wir einander auf diese Art fremd. Eine Runde mit Männern aus Afghanistan,
Nigeria, Pakistan, Syrien... Ich hab unser Divanisieren hier wieder eingeführt,
diese gesellige Präsenz am Straßenrand: [link]
Keine neuen Klarheiten, vorerst, nur offene Fragen. Das ist
ein guter Zustand. Ich sehe ja rundum all jene, die keine Fragen haben, bloß Unruhe, daß
die Dinge schon wieder nicht bleiben wie sie waren.
Zwischendurch Trivialeres. Gestern habe ich auf einer
meiner Kalssikertouren endlich eines der Leitfossilien europäischer Massenmotorisierung
in der österreichischen Ausführung erwischt. Einen Steyr-Fiat 600. Sieht
unspektakulär aus, ist eine Meisterleistung des Ingegnere Dante Giacosa mit
seinem Team.
Ovoid, Box, Keil. Ich blättere
gerade eine kleine Stilkunde auf, die einem begreiflich machen soll, wie sich im Generalfetisch
Automobil unsere Welt abgebildet hat. Das wird "Die Straße des 20.
Jahrhundert", wie ich sie heuer bei "Mythos Puch" auch mit
realen Fahrzeugen umsetzen möchte: [link]
Während ich darüber schreibe, lerne ich von zwei
versierten Industriedesignern viel dazu. Gangl und Urleb haben ja einiges zu sagen, zeigen
mir auch in ihrer Arbeit, was hinter den nächsten Vorhängen zu finden ist, wenn man sie
etwas beiseite schiebt: [link]
So pendle ich zwischen völlig unterschiedlichen Aufgaben
Den Angelpunkt bildet zu all dem freilich die Kunstpraxis. Das hatte sich heuer schon in
der "Wunderkammer" verdichtet, die sich -- wie zu erwarten war -- als
ein begehbares Bilderrätsel erwies: [link]
Ahnen Sie, was das Merkwürdige daran ist? Da ich mir doch
alles, was darin vorkommt, ausgedacht habe, warum fragt mich jemand, was es
bedeutet, wo doch alle sich selbst etwas ausdenken könnten, was keinesfalls weniger wiegt
als das von mir Ausgedachte?
Wenn Sie darauf entspannt antworten können, haben Sie viel
von Kunst verstanden. In dieser Welt des symbolischen Denkens gibt es kein Kommissariat
für vorrangige Ergebnisse. Um es mit Joseph Beuys auszudrücken: Wenn ich es
denken kann, können Sie es auch denken.
Und nun ganz unter uns, noch einmal mit Betonung: Warum sollte jetzt mein Gedachtes
mehr Gewicht haben als das Ihre? Ja, das ist eine ernste Frage. (Ich kenne
natürlich einige Antworte, werde sie aber hier nicht vorlegen.)
Boris Groys, dessen Arbeit ich sehr schätze, sagte
gelegentlich, wir wüßten seit Duchamp, das ALLES zu Kunst werden könne. Er fügte mit
verschmitztem Blick an, das hieße aber nicht, daß alles gute Kunst werde.
Klar ist, die von mir in der "Wundrkammer" deponierten
Notizblöcke blieben ungenutzt. Kein Reflexionsgeschäft, das sich vor Ort
manifestieren wollte. Bei mir sind dauernd Notizhefte in Griffweite. Das mag einen der
Unterschiede ausmachen. Das kühne Wechselspiel der Gedanken zwischen Kopf und Papier;
wovon Platon uns erzählt hat, was Sokrates kritisierte: Wenn wir beginnen, unsere
Gedanken aufzuschreiben, werden wir vergeßlich.
Weiter zu den Texten in ihren knappsten Möglichkeiten, oft
nach solchen Notizen entstanden. Ich hab aus dem letzten Jahr heraus die Lyrik zu einem
tragenden Element meiner nächsten Schritte gemacht: [link]
Das hatte sich schon in der Begegnung mit dem bosnischen
Dichter Muhidin Saric angebahnt. gehabt Es wurde eine etwas gespenstische Situation. Da
saß ich neben diesem Überlebenden des Tötungslagers Keraterm vor Publikum. Ich
hatte die Aufgabe übernommen, deutsche Versionen seiner Texte zu lesen.
Da war eine Passage über seine Mutter, wie man ihr in
einem deutschen Konzentrationslager Gewalt angetan hatte. Ich kam nicht einmal durch das
erste Drittel des Textes, bis ich unterm Lesen die Fassung verlor. (Wie skurril, daß mir
jemand unterstellte, ich hätte diese Situation gespielt. So viel Distanz
brauchen wir also zu den Grausamkeiten in der Nachbarschft.)
Ich bin heute, etliche Monate nach diesem Ereignis, kaum
über diese Stelle der Erschütterung hinausgekommen. Es hätte sich ja über allem, was
wir erfahren konnten und wissen, nicht bloß die Welt ändern sollen, wir hätten
die Welt ändern müssen. Haben wir aber nicht.
Ich fürchte, das kam nicht so, weil es unmöglich wäre,
sondern, um das in Anklängen an Immanuel Kant zu sagen, mangels "der
Entschließung und des Mutes". [Quelle] Es fällt uns
nach wie vor schwer, als Gemeinschaft den "Ausgang aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit" zu sichern.
-- [Das Gleisdorfer
Kunstsymposion] -- |