10. März 2015 Dissidente Authentizität. In einem meiner Notizhefte steht:
"Jedes kulturelle Feld besitzt seine eigenen Mythen." Ein Satz, den ich
von Tom Holert und Mark Terkessidis behalten hab. Der Kunsthistoriker und der Psychologe
haben über "dissidente Authentizität" nachgedacht. Was sie vorfanden,
nannten sie "Mainstream der Minderheiten".
Die Pop-Kultur ist unter anderem ein endloses
Inszenieren von Leuten, die sich als "Rebellen" verstanden wissen
wollen; authentisch und dissident, wie ich annehme. Kürzlich las ich in
der Kleinen Zeitung über einem Doppelseiter eine Headline, in welcher "Der
sanfte Rebell" vorgeführt wurde.
Ich hab eine Weile gegrübelt, was jemanden
dazu bringt, Rudi Dutschke so zu promoten, denn was an ihm sanft gewesen sein soll,
erschließt sich mir nicht. Interessant bleibt, selbst ein Sanfter soll also Rebell
sein können.
Mir ist dieser Begriff "dissidente
Authentizität" sehr nützlich, weil aufschlußreich geworden. Ich habe lange
nicht verstanden, was Kunstschaffende in meinem Umfeld bis in die Gegenwart dazu bringt,
sich in geselligen Situationen durch das Tragen komischer Hütchen und auffälliger
Manieren, auch durch grellfarbene Brillengestelle dekoriert, als "Künstler" zu
markieren und hervorzuheben.
Dieses dümmliche Getue ist mir ebenso lästig
wie die quasi Gegenposition, der gut situierte Mittelschichtler, von dem ich zu hören
bekomme, wie sehr sich doch seine und meine Existenz glichen. Es gibt aber noch eine
dritte Option, quasi den Bastard, der all das in sich vereint.
Das wäre etwa die Schriftstellerin, die sich
über Jahrzehnte als "Freie Schrifstellerin" hervortut und als solche
kostümiert durch die Salons geistert, obwohl sie nie etwas anderes war als eine
angepaßte Dienstnehmerin, die schließlich ihre stattliche wie staatliche Pension
genießt.
Wer also "dissidente
Authentizität" durch den eigenen Lebenswandel nicht schon hat, simuliert sie
einfach. Dabei fällt mir auf, daß ich eine kuriose Variante in diesem
Authentizitätstheater gerade übersehen hab. Ich kenne hier auch Leute, die sich quasi
als "Künstler" verkleiden, ohne an der Kunst das geringste Interesse zu zeigen.
Sie haben sich Attitüden zugelegt, von denen
sie annehmen, die seien für Künstler typisch. Sie malen und zeichnen ohne jede Spur von
Talent und handwerklichem Vermögen. Sie dichten mit grober Keule. Sie genießen
Vernissagen ihrer Werke, führen gelegentlich auch kühne Reden, allein, die Kunst kommt
in all dem nicht vor. Aber es simuliert "Dissidente Authentizität".
Nur nicht so sein und so scheinen "wie
die Anderen". Doch wie generiert man das?
Selbst an Kunst weitgehend Uninteressierte
wissen den Kult um Berühmtheit an sich mit Andy Warhol zu verbinden. Ich ahne,
daß heute dieses markante Sujet der Pop-Kultur sich bis zu den entlegendsten Vernissagen
in der Provinz durchgesetzt hat.
Das führt zu merkwürdigen Blüten und
verleitet mitunter gut situierte Mittelschichtleute sogar zu einem entwürdigenden
Verhalten. Ich hab an anderer Stelle eben notiert, wie einige Honoratioren einer
Provinzstadt sich bei einer Vernissage mit exzellenten Arbeiten im Auftakt gegenseitig die
Eier geschaukelt haben, während unerwähnt blieb, daß die Künstlerin zwei Nächte auf
dem Boden der Galerie übernachten mußte, weil ihr niemand ein Zimmer bezahlt hat. Siehe:
"Kultur kurios: Hartes Lager" [link]
Das Skurrile an dieser Geschichte, es war
ausgerechnet ein Vorstandsmitglied der IG Kultur Steiermark, von dem ich bei der
Vernissage diese Information zugesteckt bekam. Wieso wurde das Kunstfeld über weite
Bereiche von so einer Spießerkultur übernommen?
Polemisch verkürzt: Einst leistete sich ein
wohlhabendes Bürgertum das Führen von Salons und hielt sich da den einen oder anderen
Bohemien, der zwischen Experten anderer Art herumgeistern mochte.
Dem Kleinbürgertum ist das nicht möglich,
wäre das wohl finanziell und inhaltlich zu anstrengend. Aber im Kopieren
und Simulieren solcher Verhältnisse hat sich Salonkultur als Zerrbild ihrer
selbst erhalten. Nun bittet man keine Künstler und Bohemiens an seinen Tisch, um sie zu
bewirten und ihre geistigen Güter zu genießen, man simuliert einfach, selbst einer zu
sein.
So wird "dissidente
Authentizität" als Rollenspiel zur Freizeitbeschäftigung von Spießern und
Mittelschicht-Trutschen, was zwangsläufig zu gelegentlichen Kollisionen führt, wenn etwa
reale Kunstschaffende das Feld betreten.
Zur Erinnerung, im Jahr 2013 hatte ich einen
kleinen Text über den "Hunger nach Kultur" geschrieben. Anlaß dazu
war ein Leserbrief gewesen, der zu einem Zeitungsartikel führte, aus dem zu erfahren war,
daß ein Vernissagenbesucher sich bei der Redaktion beschwert habe, das Buffet sei ihm zu
mager und gering ausgefallen: [link]
Statt so einem Idioten den Leserbrief um die
Ohren zu schlagen und in einem Artikel die Prioritäten zu ordnen, mußte sich die lokale
Kulturpolitik dieser infamen Beschwerde stellen.
Abschließend darf ich Ihnen versichern, die
ernstzunehmenden Künstler in meinem Bezugsfeld erkennen Sie nicht als solche, wenn Sie
ihnen bloß über den Weg laufen. Erst im Gespräch merkt man, daß man es mit einer
Person zu tun hat, deren Kenntnisse und Esprit eher über dem erfahrbaren Durchschnitt
liegen. Da ist nämlich "dissidente Authentizität" kein Produkt, um
welches man sich bemüht, sondern die Konsequenz von Lebensweisen.
-- [Gleisdorfer
Kunstsymposion] -- |