20. Jänner 2015

Es gibt eine spezielle Art eurozentrischer Ratlosigkeit, die sich im Appell um Appelle ausdrückt. Wenn Medienberichte mich in tatenlose Unruhe stürzen, bleibt mir immer noch das kopflose Herumrennen.

Fluchtverhalten. Laut schreien und mit den Armen fuchteln. Das sollte gute Gründe haben, damit die werten Nachbarn nicht zu grübeln beginnen, welche Art Arzt sie rufen mögen. Wenn der Mangel an Medienkompetenz mich kleinkriegt, da ich dank meiner Medienausstattung von jedem Übel in jedem Winkel der Welt erfahre, aber heute weniger denn je weiß, wie ich darauf adäquat reagieren könnte, läßt sich ein Angstgefühl, das zum Fluchtreflex treibt, vielleicht schwer bezähmen.

Aber kopflos herumrennen, laut schreien und mit den Armen fuchteln kann ich dank Facebook und Twitter substituieren. Das klingt dann etwa so: "Wo bleibt der Aufschrei für die Opfer in Nigeria?" und verlangt bloß noch, per Mausklick die nächstbeste Online-Petition zu zeichnen.

Jammern und Wehklagen retten keine Leben. Oder doch? Gut, es soll kein Entweder-Oder werden. Wo es vor allem einmal darum geht, selbstverschuldete Unmündigkeit zu mildern, mag so eine Verfahrensweise helfen. Die Weigerung, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen, läßt vielleicht im Auftakt nur solche kleinen Schritte zu.

Ich höre nun auch sofort auf, Immanuel Kant zu zitieren, komme zur Sache. Aus unserer eigenen Geschichte könnten wir wissen, was es mit einer marodierenden Soldateska wie Boko Haram, mit Reitermilizen wie den Dschandschawid, mit den Horden des IS auf sich hat.

In unseren Flüchen ist die kollektive Erinnerung an solche Heimsuchungen noch erhalten. "Kruzitürken!" erinnert an Kuruzen und Türken, an Renner und Brenner, an Akindschi. Die Osmanen  hatten völlig durchgeknallten Paramilitärs erlaubt, einen Landstrich zu überfallen, bevor sie selbst mit regulären Truppen anrückten. Osmanische Geschichtsschreiber berichteten:

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Akindschi nach Melchior Lorich
"Von den Alcantzern" ( um 1555)

"All die Jungherren, Woiwoden [Anm. d. Red. Bezeichnung für einen Heerführer, Herrscher oder Würdenträger aus Siebenbürgen, Moldau oder der Walachei] und Toviças [Anm. d. Red. Rottenführer der Akincis, einem „Renner und Brenner“ genannten Vortrupp der osmanischen Armee] streiften immer wieder nach allen Seiten: Das Land war leer, und kein Fürst und kein Heer waren da, die sich ihnen entgegen gestellt hätten. So holten sie sich ganz nach Belieben so viele Gefangene, wie sei nur konnten. Im ganzen Heer von 30 000 bis 40 000 Mann gab es keinen, der nicht seinen Teil an irdischen Gütern bekommen hätte. An dieser Beute wurden alle satt und reich." [Stefan Schreiner (Hg). Die Osmanen in Europa. Erinnerungen und Berichte türkischer Geschichtsschreiber, 1985]

Ich nehme an, "Jungherren" meint die Janitscharen (yeniçeri), eigene Truppenteile, die aus Christensöhnen zusammengestellt worden waren.

Warum ich das erzähle? Ich möchte zu bedenken geben, daß es einen stabilen Staat mit Rechtssicherheit und Gewaltmonopol braucht, um Freischaren zu verdrängen, aufzulösen.

Sollen IS, Boko Haram oder Dschandschawid verläßlich entwaffnet und entmachtet werden, ist das mit einzelnen Militäraktionen wohl nicht erreichbar.

Das bedeutet auch, daß es in den meisten Fällen keine schnelle und umgehende Hilfe für ihre Opfer geben wird. Meine Leute träumen mitunter gerne von militärischem Eingreifen oder anderen Omnipotenzphantasien.

Die Fragwürdigkeit solcher Ideen beginnt schon damit, daß weder ich selbst mich bewaffnen und hingehen werde, noch möchte, daß mein Sohn sich so einer Mission anschließen würde. (Wer von Euch würde gehn?)

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Sitzender Janitschar
Gentile Bellini (um 1480)

Daher die erste Frage: Wer soll in Waffen gehen und sich solchen Freischaren stellen? Das führt gleich zur zweiten Frage, die von asymmetrischer Kriegführung handelt und davon, wie realistisch aber auch klug es sei, westliche Bodentruppen in eine fremde Kultur zu schicken.

Wie effizient und uneigennützig war der Westen etwa in Afghanistan, im Irak? Hat nicht genau in solchen Ländern und Konflikten der Westen enorm viel geleistet, um diese junge Form der Dschihadis zu generieren? War nicht Bin Laden eines der prominenten Produkte solcher Politik?

Wie sollen daher die Bedrohten und die Opfer der Freischärler vor Ort geschützt werden? Reden wir vielleicht über Schutzzonen, über militärisch gesicherte Terrains, wohin die Elenden sich flüchten könnten. Nun reden wir freilich je nach Region von Millionen Flüchtenden.

Dieses Europa zeigte sich nicht einmal in der Lage, auf dem eigenen Kontinent die rund 8.000 massakrierten Männer, übrigens Muslime, rund um Srebrenica (Bosnien) zu schützen: Da waren aber Blauhelme schon vor Ort und schweres Gerät ist prinzipiell verfügbar gewesen.

Wir militärischen Laien sollten also nicht großspurig von militärischen Interventionen quasseln, wo wir keine Ahnung haben, wovon wir reden. Das läuft bloß auf Karaoke hinaus, auf leeres Gewäsch, von dem niemand profitiert; bestenfalls das eigene Gewissen, das im Wissen um solche Mißstände sich etwas beruhigen mag.

Was ich zu tun gedenke? Na, zu allererst meine Medienkompetenzen aufpolieren, auf daß ich durch die permanente Berichterstattung nicht den Kopf verliere, in tiefe Depressionen gehe oder in einen blöden Alarmismus.

In der Folge scheints mir nützlich, mich mit anderen Leuten darüber zu verständigen, wie unsere westliche Lebensart als jenes Wertgefüge konkretisiert und gestärkt werden kann, das sich den Dschihadis als ein kulturelles und soziales Bollwerk entgegenstellt. Aber was heißt da schon westlich? Reden wir nicht seiot Jahrzehnten von universellen Menschnerechten?

Weil ich sie hier schon erwähnt hab: Es waren sehr wesentlich die Osmanen, von denen über Jahrhunderte verhindert wurde, daß sich der Buchdruck in die arabischen Kulturen verbreitet. Das blockierte eine Demokratisierung von Wissen, die Auflösung von Herrschaftswissen und die Fähigkeit zur Textkritik. (Auch eine Medienkompetenz!)

Darin liegt nur einer der Gründe, aus denen die arabischen Kulturen einen sagenhaften Niedergang erlitten, der diesen Leuten wohl spätestens dann schockierend bewußt geworden sein mußte, als Napoleon in Ägypten landete.

Wie lang ist nun die Geschichte dieser Kulturen, denen nur dort Blüte gegönnt war, wo Herrscher die Scharia weitgehende ignorierte? Dieses miserable Flickwerk, das sich an keiner Stelle mit dem messen kann, was wir in einem zweitausendjährigen Prozeß und Ringen aus dem Römischen Recht hergeleitet haben.

Wie also sollen wir beitragen, Gesellschaften zu ordnen, die sich mit solchen Optionen noch nicht vertraut gemacht haben? Na, vor allem einmal, indem wir unsere Angelegenheiten ordnen. Freie Meinungsäußerung, Zugang zur Bildung, Verteilungsgrechtigkeit und Rechtssicherheit, ich meine, da wartet viel Arbeit auf uns, diesen und anderen Grundlagen unserer Demokratie wieder mehr Stabilität zu verleihen.

Erst wenn wir eine Überlegenheit solcher Optionen nicht bloß behaupten, sondern belegen, können wir jene stärken und unterstützen, die in anderen Gesellschaften gerade unterwegs sind, solche Grundlagen zu sichern.

Die letzten Jahrhunderte nun schwindender Dominanz Europas im Weltgeschehen sollten uns beim Wunsch nach Intervention in anderen Erdteilen Vorsicht auferlegen. Darin ist uns ja die Ukraine eine aktuelle Lektion.

Unbestritten, daß Rußland dort das Völkerrecht verletzt hat. Aber ich danke meinem Schicksal, daß auf eine militärische Intervention des Westens verzichtet wurde, statt dessen weitgehender Konsens herrscht, diese Krise müsse politisch gelöst werden. Dabei ist klar: Das wird kaum unter zehn Jahren zu schaffen sein.

Wir haben keine "Werte des Abendlandes" zu verteidigen, denn wir stehen längst auf einer breiten Übereinkunft, daß ganz konkrete Menschenrechte universell seien. Für Leute wie mich gilt es daher, nicht kopflos Alarm! zu schreien, sondern konsequent daran zu arbeiten, daß die Zone der Gültigkeit und praktischen Bewährung dieser Menschenrechte keine Lücken erhält, überdies kontinuierlich wächst.

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