22. Oktober 2014 Würde
wir uns einigermaßen bewußt machen, wie dünn an allen Stellen jene Wand ist, die uns
von der Gewalttätigkeit trennt, wir wären wohl angeregt, auf die Haltbarkeit dieser Wand
besser zu achten.
Es ist ja nicht so, wie mit dem schlechten Wetter, daß man
bloß Fenster schließen müßte, falls plötzlich der schwere Regen fällt. Es ist
genauer so, daß die Gefahr uns schon erreicht hat, wenn wir erste kühle Windböen
verspüren.
Damit meine ich, daß die Schutzwand an jenen Stellen
brüchig wird, wo wir in öffentlichen Debatten zulassen, ohne Einwand lassen, daß
Mitmenschen als "Gegenmenschen" markiert werden. Das ist zuallererst ein
Medienereignis.
Von links: Emina Saric, Martin
Krusche, Muhidin Saric und Jelena Juresa
bei der Vernisage zu "Mira, Study for a Portrait" von Jelen Juresa
All das geschieht im Auftak über die Sprache und in
Bildern. Wenn wir in menschlicher Gemeinschaft Feindbilder zulassen, ist die Gefahr schon
unter uns; eine Gefahr mit langlebiger Zähigkeit, die man kaum wieder los wird.
Eines muß dabei völlig klar sein: Geben wir bloß einige
Menschen unter uns der Gefahr preis, sind wir bereit, sie der Gewalttätigkeit
auszuliefern, ist eben jene Schutzwand eingerissen, die auch uns schützt, denn die Gewalt
ist weder wählerisch noch zimperlich.
Wir brauchen nicht darüber zu spekulieren, was passiert,
wenn diese Wand auch nur stellenweise offen bliebt. Die Gewalt hat enorme Wirkungen nach
innen und nach außen. Sie korrumpiert uns in den Köpfen und Herzen, sie wird den Opfern
zu einer Springflut, sie wächst mit jedem Treffer, der nicht abgewandt werden konnte,
vielfach.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite handelt von den
Fragen, die ein Danach aufwirft. In den Opfern, die überlebt haben, tritt uns das eigene
Versagen gegenüber. Nicht als ein individuelles, sondern als ein gesellschaftliches, als
ein Versagen der Menschengemeinschaft.
Das verleitet dazu, sie, die Überlebenden, ein zweites mal
zu opfern, indem wir sie mit ihren Erfahrungen alleine lassen, nicht wissen wollen, nichts
hören wollen. Aber was ist eine angemessene Art der Begegnung mit ihnen? Was sind die
Orte dafür? Wie damit verfahren?
Es gibt einige simple Grunderfahrungen im Gemeinwesen, die
uns dabei im Wege stehen können. Wenn ich jemanden dränge, in eine Situation zu gehen,
wo er sein Gesicht verlieren wird oder auch nur seine Fassung verlieren wird, ist es sehr
wahrscheinlich, daß mir die Person nach wenigen Schritten gemeinsamen Weges verloren
geht.
Hinzu kommt, daß wir keine Kultur haben, in der das
Scheitern als eine Erfahrungen gewertet würde, ohne die Neues nicht entstehen kann. Wo
wir also in einer Sache als Gemeinschaft gescheitert waren, bliebe uns eben dieses Erleben
nicht primär als ein Vorfall der Schande, sondern als eine Empfehlung, neue
Möglichkeiten zu erringen.
Ich fürchte aber, wir können uns solchen Prozessen auf
dem Weg zu neuen Verhältnissen nicht widmen, wenn wir uns von den Opfern in unserer Mitte
abwenden, wenn wir keine Vorstellung entwickeln, was uns mit ihnen verbindet, wenn wir
nicht wenigstens sichergestellt haben, daß sie gehört wurden.
Falls es damit ernst ist, daß ein Kollektiv zu neuen
Möglichkeiten aufbrechen will, muß Kenntnis davon dingfest gemacht werden, was geschehen
ist, um diesen Aufbruch zu initiieren. Ohne diesen Zusammenhang in angemessener Weise
herzustellen bleibt unklar, worum es eigentlich geht.
So vermute ich, im Kern steht die Anforderung, jenen wieder
einen sicheren Ort zu bieten, die einer Überwältigung ausgeliefert waren, der
Gewalttätigkeit, der Mißhandlung. Ich denke, dieser sichere Ort hat einige
Grundbedingungen. Die handeln davon, daß wir anerkennen, was Menschenart ist, was wir
einander schlagartig zufügen können, wenn die "Normalität" kurz Pause macht.
Indem wir uns bemühen, den Überlebenden sichere Orte zu
schaffen, sorgen wir für unsere Sicherheit, weil sie uns vor Augen halten, was jederzeit
losbrechen, über uns alle hereinbrechen kann, wenn das Gebot des Gewaltverzichts nicht
hält.
An diesen Grundbedingungen zu arbeiten kann auch bedeuten,
die Folgen eigener Gewalterfahrungen wieder in den Vordergrund treten zu lassen, was eine
quälende Unruhe auslöst. Es gibt noch eine Reihe übriger Möglichkeiten, von den
Konsequenzen der Schutzlosigkeit anderer erfaßt zu werden...
Eben endet langsam das Jahr 2014, in dem wir an 1914 zu
denken hatten, dessen Vorbedingungen und Folgen. Wir haben hier auf dem Kunstfeld eine
kleine Nische aufgemacht, in der wir als sehr kontrastreiche "Reisegesellschaft"
ein Stück weit unterwegs waren, um an uns selbst und anderen zu erkunden, wohin uns das
getragen hat; dieses Kräftespiel in der Folge von 1914.
Es steht für mich völlig außer Zweifel, daß wir über
eine dichte Ereigniskette mit diesen Verläufen quer durch das 20. Jahrhundert verknüpft
sind. Individuelle Traumata, kollektive Konfusionen...
Shakespeare läßt seinen Coriolanus in einer
Eskalation der Auseinandersetzung zwischen ihm, dem Volk und der politischen Klasse in Wut
geraten, was dem Soldaten ins Verderben stürzen wird. Coriolanus tadelt die Menschen ob
ihrer Wankelmütigkeit und politischen Unentschlossenheit: "Dies eure Herde? Die
müssen Stimmen haben, jetzt zum Ja Und gleich zum Nein? - Und ihr, was schafft denn ihr?
Seid ihr das Maul, regiert nicht ihre Zähne? Habt ihr sie nicht gehetzt?"
Wir dürfen annehmen, daß derlei Kräftespiele seit der
Antike, seit wir dingfeste Überlieferungen haben, auf die gleichen Arten geschehen, uns
bezüglich der Intentionen, Methoden und Folgen keinerlei Geheimnisse aufbürden. Daher
sind wir zu antworten, zu handeln befähigt. Es bleibt bloß die Frage, ob wir es wollen,
und falls ja, wie wir es anstellen möchen.
Ich bin beunruhigt und keineswegs zufrieden, was die
mehrjährige Arbeit einer Gruppe Kunst- und Kulturschaffender hier greifbar machen konnte.
Wir haben uns seit 2012 konzentriert damit befaßt, in einem Dialog zwischen Leuten aus
Österreich, Bosnien und Serbien durch dieses Jahr 2014 zu gehen. Ich lausche einer
Stille. Ich habe keine Ahnung, was darin erklingen könnte...
-- [Mira, Study for a
Portrait] [Das
Kunstsymposion 2014] [Generaldokumentation]
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