3. Juni 2014

Ich habe die Notizen für das Blatt 2.000 in diesem Logbuch ein wenig hin- und hergeschoben. Einige Passagen mußten vorerst entfallen, weil ich noch keine Klarheit habe, wie ich sie zu einander anordnen soll.

Wenn ich vom heutigen Tag auf das 20. Jahrhundert zurückblicke, liegen da vor allem unsere eigenen Biographien vor uns, die durch radikale Ereignisse auf dem Kontinent geprägt wurden. Woran mag es liegen, daß ich mich in diese Ereignisse so verwoben fühle?

log1995a.jpg (20927 Byte)

The Track: Pop

Sind das Medieneffekte? Kulturelle Merkwürdigkeiten? Haben wir da auf gesellschaftlicher Ebene etwas generiert, das uns noch nicht ganz klar ist? Eine der Notizen, die – wie oben erwähnt – hier noch gar nicht einfließen sollte, drängt sich nun doch auf. Es ist ein Fragment aus einem Gedicht von Heinrich Heine:

Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche --
Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!
[…]


Einige von uns sind Kinder der Überlebenden des Zweiten Weltkriegs. Das wurde keine harmlose Geschichte. Wenn es da heißt „Überlebenden des Zweiten Weltkriegs“, sind meistens Opfer gemeint. Ich habe aber die Täter im Nacken, die sich in einer großen kollektiven Anstrengung zu verbergen suchten.

Später: Wir wuchsen im Kalten Krieg auf und erlebten das Ende der Sowjetunion, den Fall der Berliner Mauer. Die Auflösung des Warschauer Paktes bei Weiterbestehen des Nordatlantikpaktes dürfte bis heute wirkmächtige Konsequenzen in unserem Dasein zeigen. In den Untergang Jugoslawiens sind wir alle verwickelt.

Ich denke, die Russische Avantgarde hat auf uns stärkeren Einfluß genommen als Österreichs Fin de Siècle. Warum? Weil die Wiener Partie sich nicht an uns Proleten wandte, sondern an ein Milieu, das auf uns harabblickte. (Deshalb bricht es mir fast das Herz, wenn ich nun erlebe, wie sich Proleten danach verzehren, so eine bürgerliche Nummer hunzukriegen.)

Duchamp gibt uns immer noch Rätsel auf. Warhol ist immer noch Provokation. Beuys bewirkt immer noch Unruhe. Cage bleibt unausgelotet.

Die Wirtschaft plündert bedenkenlos die Kunst. Leute von Kunstfeldern haben sich mit Verve zu wirtschaftlichen Faktoren transformiert.

Ich sehe mich am Rande des Boulevards stehen, um auf diesen Meilen ebenso zu flanieren wie in schattige Nischen zurückzukehren. Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß die Entscheidung zwischen Konsumation oder Partizipation derzeit keine Frage von hohem Rang ist.

Momentan habe ich über einen anwendbaren Themenbogen „Moderne – Postmoderne – Pop“ nachzudenken. Und erneut über Shakespeares „Coriolanus“.

Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß die Flagge der Kunst über vielem weht, das bloß soziales Anliegen ist und sich mögliche Kunstbudgets einverleiben möchte.

Der Witz daran ist die lächerlich geringe Dotierung von Kunstprojekten aus öffentlichen Geldern, weshalb die aktuellen Verteilungskämpfe im Kulturbereich sich schnell als das offenbaren, was sie eigentlich sind: Der Anlauf zum Verzicht auf Gegenwartskunst zugunsten freundlicher Surrogate, die sich vor allem als Schmiermittel eines erheblich beschädigten gesellschaftlichen Getriebes eignen sollen.

Es ist nicht meine Aufgabe, Öl in irgendeiner Maschinerie zu sein, sondern über nächste Horizonte hinauszublicken. Das ist im Kern eine sehr simple Aufgabe. Man kann Vision nicht behaupten und Innovation nicht per Dekret feststellen. Statt dessen geht es um die Drecksarbeit der Erkenntnis. Ein volkommen unspektakuläres Unterfangen.

Ich habe es mit einer Art Expeditionsgeschäft zu tun. Es verlangt von mir stets neu Entscheidungen, in welche Richtung ich den nun gehen soll. Nichts ist versprochen. Es könnte nichts zu finden sein. Und immer muß ich für meine adäquate Ausstattung zu diesen Aufbrüchen sorgen, obwohl ich nie weiß, in welches Wetter ich geraten werde und wie lange die nächsten Durststrecken sind.

Wie könnte ich jemandem, der zuhause bleibt, erklären, was mich ausmacht? Das geht nicht.

Was noch? Im Augenblick fällt mir dazu bloß eine Zeile von Thomas Glavinic ein: „Und ich will auch nicht Balzac sein, denn sonst wäre ich tot.“

-- [The Track: Pop] --

[kontakt] [reset] [krusche]
23•14