3. Juni 2014 Ich habe
die Notizen für das Blatt 2.000 in diesem Logbuch ein wenig hin- und hergeschoben. Einige
Passagen mußten vorerst entfallen, weil ich noch keine Klarheit habe, wie ich sie zu
einander anordnen soll.
Wenn ich vom heutigen Tag auf das 20. Jahrhundert zurückblicke, liegen da vor allem
unsere eigenen Biographien vor uns, die durch radikale Ereignisse auf dem Kontinent
geprägt wurden. Woran mag es liegen, daß ich mich in diese Ereignisse so verwoben
fühle?
The
Track: Pop
Sind das Medieneffekte? Kulturelle
Merkwürdigkeiten? Haben wir da auf gesellschaftlicher Ebene etwas generiert, das uns noch
nicht ganz klar ist? Eine der Notizen, die wie oben erwähnt hier noch gar
nicht einfließen sollte, drängt sich nun doch auf. Es ist ein Fragment aus einem Gedicht
von Heinrich Heine:
Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche --
Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!
[
]
Einige von uns sind Kinder der Überlebenden des Zweiten Weltkriegs. Das wurde keine
harmlose Geschichte. Wenn es da heißt Überlebenden des Zweiten
Weltkriegs, sind meistens Opfer gemeint. Ich habe aber die Täter im Nacken,
die sich in einer großen kollektiven Anstrengung zu verbergen suchten.
Später: Wir wuchsen im Kalten Krieg auf und erlebten das Ende der Sowjetunion, den Fall
der Berliner Mauer. Die Auflösung des Warschauer Paktes bei Weiterbestehen des
Nordatlantikpaktes dürfte bis heute wirkmächtige Konsequenzen in unserem Dasein zeigen.
In den Untergang Jugoslawiens sind wir alle verwickelt.
Ich denke, die Russische Avantgarde hat auf uns stärkeren Einfluß genommen als
Österreichs Fin de Siècle. Warum? Weil die Wiener Partie sich nicht an uns
Proleten wandte, sondern an ein Milieu, das auf uns harabblickte. (Deshalb bricht es mir
fast das Herz, wenn ich nun erlebe, wie sich Proleten danach verzehren, so eine
bürgerliche Nummer hunzukriegen.)
Duchamp gibt uns immer noch Rätsel auf. Warhol ist immer noch Provokation. Beuys bewirkt
immer noch Unruhe. Cage bleibt unausgelotet.
Die Wirtschaft plündert bedenkenlos die Kunst. Leute von Kunstfeldern haben sich mit
Verve zu wirtschaftlichen Faktoren transformiert.
Ich sehe mich am Rande des Boulevards stehen, um auf diesen Meilen ebenso zu
flanieren wie in schattige Nischen zurückzukehren. Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß die
Entscheidung zwischen Konsumation oder Partizipation derzeit keine Frage von hohem Rang
ist.
Momentan habe ich über einen anwendbaren Themenbogen Moderne Postmoderne
Pop nachzudenken. Und erneut über Shakespeares Coriolanus.
Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß die Flagge der Kunst über vielem weht, das bloß
soziales Anliegen ist und sich mögliche Kunstbudgets einverleiben möchte.
Der Witz daran ist die lächerlich geringe Dotierung von Kunstprojekten aus öffentlichen
Geldern, weshalb die aktuellen Verteilungskämpfe im Kulturbereich sich schnell als das
offenbaren, was sie eigentlich sind: Der Anlauf zum Verzicht auf Gegenwartskunst zugunsten
freundlicher Surrogate, die sich vor allem als Schmiermittel eines erheblich beschädigten
gesellschaftlichen Getriebes eignen sollen.
Es ist nicht meine Aufgabe, Öl in irgendeiner Maschinerie zu sein, sondern über nächste
Horizonte hinauszublicken. Das ist im Kern eine sehr simple Aufgabe. Man kann Vision nicht
behaupten und Innovation nicht per Dekret feststellen. Statt dessen geht es um die
Drecksarbeit der Erkenntnis. Ein volkommen unspektakuläres Unterfangen.
Ich habe es mit einer Art Expeditionsgeschäft zu tun. Es verlangt von mir stets
neu Entscheidungen, in welche Richtung ich den nun gehen soll. Nichts ist
versprochen. Es könnte nichts zu finden sein. Und immer muß ich für meine
adäquate Ausstattung zu diesen Aufbrüchen sorgen, obwohl ich nie weiß, in welches
Wetter ich geraten werde und wie lange die nächsten Durststrecken sind.
Wie könnte ich jemandem, der zuhause bleibt, erklären, was mich ausmacht? Das geht
nicht.
Was noch? Im Augenblick fällt mir dazu bloß eine Zeile von Thomas Glavinic ein: Und
ich will auch nicht Balzac sein, denn sonst wäre ich tot.
-- [The Track: Pop] -- |