2. März 2014

Manchmal mag ich mir selber nimmer zuhören und muß es doch wiederholen, wiederholen, wiederholen: Lesen Sie! Haben Sie den Mut zu denken!

Wenn es sich auch anhört wie das Lamento eines alternden Predigers, so ist doch eines klar: Es liegt nicht alles im Blick, in der Visage eines Menschen. Da mag man sich täuschen, obwohl ich meine, daß man eine geistlose Fresse oft erkennen kann. Wenn aber zu reden ist, wenn jemand den Mund aufmacht, reichen wenige Minuten, um eine Ahnung zu liefern, was sich ereignen wird.

Esprit läßt sich nicht verbergen und sein Mangel ist nicht durch Simulation bemäntelbar.

Ich möchte jedem Menschen zugestehen, sich auch für die Existenz eines Deppen zu entscheiden. Ich vermute, eine der populärsten Quellen solcher Zustände ist das Übel nie und nichts gefragt zu werden. Fragen. (Staunen und Fragen gelten als eine Ausgangssituation für Philosophie.)

Kann freilich sein, daß jemand dann seine Plappermaschine anwirft und einen mit Befindlichkeitsprosa zuscheißt. Befindet sich irgendjemand auf so anregende Art, in so interessanten Zuständen, daß ich dem eine halbe oder ganze Stunde lauschen sollte; womöglich mit Andacht? Das ist schon vorgekommen, aber es ist selten. Die Bedingungen dazu sind erheblich.

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Ich habe kürzlich ein Video hervorgekramt in dem mehr als zwei Stunden über Kunst debattiert wird. Sehr wesentlich ist dabei, daß die drei Künstler im Zentrum der Debatte sich nicht darin erschöpfen, bloß über sich und ihre emotionalen Zustände zu reden, denn das schert mich als Kunstliebhaber meist am allerwenigsten.

Es geht um das Werk und seinen Kontext, um Bedeutungen und Wirkung. Es geht, ich unterstreiche es einmal mehr, um geistige Prozesse. Das war 1983: Beuys. Ligeti und Weibel: [link]

Warum kann ich dieser Debatte über zwei Stunden folgen und bin gefesselt? Weil diese drei Künstler und ihre Gegenüber eben nicht bloß von sich reden, wie so manche schwafeln, denen Kunstpraxis bedeutet, nun endlich einmal von irgendjemandem bemerkt, wahrgenommen zu werden, was allerdings soziale Agenda sind und keine der Kunst.

Nein, wir haben von Prozessen zu reden, die sich über mehrere Jahrtausende erstreckten. Da fehlt mir selbst viel an Detailkenntnis, wie ich sie etwa aus dieser Debatte erfahre. Aber das macht ja nichts, so lange eben andere davon wissen und es weitertragen.

Sind wir in der Lage, einander die Welt darzulegen? Oder bleibt uns vor allem das Geplärre, in dem sich Unbehagen ausdrückt, aber sonst nichts? Ich stehe diesen Posen der Ratlosigkeit entgegen, die mir andeuten: "Erkenne mich, aber frag mich nichts!"

Ich darf nicht einmal voraussetzen, daß Immanuel Kant erkannt wird, wenn ich, in salopper Verkürzung seiner Ansichten, wiederholt fordere: Haben Sie den Mut zu denken!

Darin liegt noch ein zweiter Appell verborgen: Setzen sie mich mit den Ergebnissen Ihres Denkens in Erstaunen!

Warum sollte ich mit weniger zufrieden sein? Warum sollte mir genügen, was aus jemandem herausbricht, der seinen Kummer über Jahre kochen ließ, als vor dem TV-Gerät auf einer Couch zu sitzen war, hoffend, daß die Bilder Trost liefern mögen?

Nie war das Denken leichter und gefahrloser als heute. Nie waren die Quellen problemloser zugänglich. Nie war den Menschen mehr Zeit zur freien Disposition überlassen, denn "Freizeit" ist ein sozialgeschichtlich äußerst junges Phänomen.

Haben Sie den Mut zu denken! Niemand ist ohne die nötigen Mittel dazu. Aber falls Ihnen das zu anstrengend ist, meiden Sie mich bitte, das erspart mir Unhöflichkeiten.

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