30. Juni 2012

Ich mag diese Geste sehr, wenn er mit der Hand seine Augen beschirmt, als würde er in die Ferne blicken, oder aber auf diese Weise kurz seinen Kopf stützen. Ich hab nie erlebt, daß er im Tonfall laut geworden wäre, aber er kann leise sehr eindringlich klingen. Als ich ihm einen Kaffee bringen will, meint er: „Laß dir Zeit."

Während wir sprechen, blickt er nicht in die Ferne, sondern in die Vergangenheit. Ich habe ihm erzählt, daß mir über die Banalität der Wurzeln des Faschismus nie mehr klar geworden wäre als bei der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer.

log1834.jpg (27229 Byte)

Ich denke, es ist diese unglaubliche Banalität in ganz simplen, alltäglichen Abläufen, welche dem Faschismus zu seiner flinken Breitenwirkung verhelfen kann. Und es ist auch uns, die wir heute so viel mehr darüber wissen, kaum präsent, wie leicht das dann in eine nächste Dimension kippt, in der sich schließlich Kategoriesprünge ereignen. Kategoriensprünge, in denen die „Normalität" Pause macht und Menschen plötzlich in der Lage sind, anderen unglaubliche Dinge anzutun.

„Wir waren ja aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen", sagt er im Laufe unseres Gesprächs. Mir ist in unserem derzeitigen Erleben keine Entsprechung für das bekannt, wovon diese Aussage handelt. „Ich war nur ein kleines Rädchen", fügt er an. Der Teil des Getriebes, in dem er Rädchen war, hieß „Gruppe Szokol" und das ganze Geschehen „Operation Walküre".

Es ist für mich ermutigend, jemanden sprechen zu können, der solcher Angst und Bedrohung widerstanden, sich einem derartigen Kräftespiel ausgesetzt hat. Das hilft mir, die Relationen zu überprüfen, die Bezugspunkte meiner eigenen Position.

„Dann ahnst du, was mich von meinen Leuten trennt", sage ich. „Deine Leute?" „Ja. Alle." Denn es hätte Konsequenzen haben müssen und es hat Konsequenzen gehabt, aber nicht die, welche nach solchen Vorfällen adäquat gewesen wären.

„Es ist die ungebrochene Doppelbödigkeit, mit der sie auch das Leben ihrer Kinder korrumpiert haben", versuche zu präzisieren, „und daß die Dinge nie sein durften, was sie waren. Das hat sie ermutigt, jederzeit weiter zu lügen, auch in allen Dingen dieses späteren Lebens. Auf so ein Fundament haben sie uns hingestellt." Und sie haben immer bedenkenlos zugeschlagen, wenn kindliche Bedenken an den Ungereimtheiten auf Fragen stießen.

Also beschirmt er mit der Hand seine Augen, blickt vielleicht in die Vergangenheit, sagt nichts. „Und ich kann mich in dieser Sache nicht mit ihnen versöhnen", füge ich an. Er wendet mir seinen Blick wieder zu. „Das kommt, weil du darüber nachdenkst", sagt er. „Andere denken darüber nicht nach. Die haben es leichter."

„Es ist mir eine Bürde, aber ich bin nicht sicher, daß es andere deshalb leichter haben." Er nickt. Als wir später zum Parkplatz hinuntergehen, wo sich unsere Wege trennen werden, sagt er: „Wir sehen uns wieder. Noch dieses Jahr."

[kontakt] [reset] [krusche]
26•12