14. September 2011 Wie viel
an Klarheiten ist erträglich? Wie viel an Konfusion ist notwendig? Was von meiner
Biografie in Schubladen abgelegt ist, sorgt gelegentlich für ein irritierendes Rumoren in
den Archiven.
Wer fragt, was diese Archive seien, würde als Antwort
hören: Mein Leib und mein Leben. Der Leib zeigt, was ihm alles widerfahren ist, das Leben
ist auch das Museum seiner selbst. Keine Sorge, es geht gleich viel banaler weiter. Ich
habe heute keinen Hang zur Philosophie. Verkommenes Wörtchen! Denn wer heute eine Meinung
hat, eine Ansicht, eine Vorstellung, wohin es langgehen könnte, der oder die hat eine
"Philosophie"; nämlich: "Meine Philosophie".
Dabei bleibt mir vollkommen rätselhaft, wie man eine
Philosophie haben könne und was genau man hat, wenn man eine Philosophie hat. Wie
angedeutet, ich stecke eigentlich in banaleren Fragen. Etwa, wo denn früher der Mühlgang
im Bereich 8010 Graz verlaufen sei.
Dabei bin ich in der Suche von der Rottalmühle
ausgegangen, weil ich als Kind dort noch eine Turbine in Betrieb gesehen hab; die
Mühlgänge zu beiden Seiten der Mur sind wichtige Kraftquellen für die
Wirtschaftstreibenden gewesen. Ein älterer Herr, dem meine Sucherei aufgefallen war, wies
mir den Weg. Er kannte einige Details. Nahe dem Schloßbergkai verlief der Mühlgang unter
anderen auf diesem markanten Terrain zwischen Straße und Gehsteig.
Ich krame zur Zeit in der Welt von De Dion-Bouton
und Darracq-Leon Bollée herum, also etwa im Jahre 1900, wo in einschlägigen
Magazinen solche Headlines vorkamen: "Jagd nach einem Autowildling"
oder "Über das Verhalten des Automobilisten gegenüber Pferden".
Inzwischen habe ich nicht den geringsten Zweifel, daß rund
100 Jahre Massenmotorisierung zu einer merkwürdigen Verknüpfung von Männerkultur,
Kriegs-Inszenierungen und sozialen Hierarchien geführt hat. Diese Maschinchen sind mit so
enormem materiellen Einsatz ideologisch aufgeladen worden, das übersteigt alltägliche
Vorstellungen bei weitem.
Es begann mit derart harmlos wirkenden Konstruktionen.
Dieses Tricycle "Darracq-Perfecta" wurde 1900 in vier Ausführungen
beworben, mit 2¼ HP bis 5 HP-Motoren. Davor haben sportliche Herrschaften noch ohne
Motorverstärkung auf derlei Vehikeln die Kurven gekratzt.
Die Streifzüge durch eine Stadt offenbaren zwischendurch
launige Nachrichten. Oft aber bin ich unterm Schauen in Gedanken versunken und lande bei
ganz anderen Geschichten. Meine Balkanfahrten haben gewöhnlich Nachwirkungen über
mehrere Wochen.
Ich hatte eben erst auf der Brücke über die Drina
gestanden, so heißt auch der grundlegende Roman von Ivo Andric, im Original "Na
Drini cuprija", und ich kapier einfach nicht, was der Unterschied zwischen "most"
und "cuprija" ist. Auch die "Lateinerbrücke" in
Sarajevo, nahe der Gavrilo Princip auf das österreichische Thronfolger-Ehepaar geschossen
hat, ist nicht "most" sondern "cuprija", nämlich
"latinska cuprija".
Aber nicht so sicher, denn ein nahestehendes Hotel heißt "latinski
most". Das sind die bei weitem harmlosesten Verwirrungen, an denen ich
gelegentlich laviere, wenn ich unter den südslawischen Leuten bin. Wie wäre es damit?
Das jüdische Mädel hat einen bosnischen Moslem geheiratet. Zum Glück innerhalb von
Familien, die damit zurechtkamen. Zumal er weniger Moslem, vor allem Kommunist war. Und
daß er Deutsch konnte, wußten sie alle nicht. Viele Jahre. Wie es dazu gekommen war? Er
hatte Arabisch lernen müssen, war schließlich im nahen Umfeld von Tito tätig gewesen.
Zu seiner Zeit sind dafür aber nur deutsche Lehrbücher verfügbar gewesen, weshalb er
den Umweg zum Arabischen über diese Sprache nahm.
Wie viele Jahre befasse ich mich nun mit Südosteuropa?
Wenn mir heute darüber etwas mit Sicherheit klar ist, dann das: Ich kann nie mit
Sicherheit annehmen, daß mir an diesen Leuten etwas klar geworden ist. Ich denke, darin
liegt ein großer Reiz, den diese Region und ihre Menschen auf mich ausüben. |