7. Mai 2011

Die Hütte voller aufgeregter junger Leute. Bildungsministerin Claudia Schmied läßt sich die Arbeitsergebnisse von einem "Lesekongress" vortragen. Ich war einigermaßen erstaunt, mit welcher Vehemenz die Kids welchen Themen nachgehen.

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Da sind, neben Spannung und Unterhaltung, Fragen der Zeitgeschichte, soziale Fragen und brisante Angelegenheiten ganz vorne gereiht. So war der Favorit der Jugendjury das Buch „Wofür die Worte fehlen" von Carolin Philipps, in dem die Autorin entlang eines authentischen Falles sexuellen Mißbrauch zum Thema macht. Philipps: „Das Schweigen schützt die Täter."

Dieses Statement paßt eigentlich auch ganz besonders auf ein Buch, das mich gerade beschäftigt. Es ist eine vollkommen unerträgliche Lektüre. Und es ist ein sehr dickes Buch. Sönke Neitzel und Harald Welzer haben auf rund 400 Seiten britische Abhörprotokolle ausgewertet, in denen die Unterhaltungen von deutschen Kriegsgefangenen nachzulesen sind.

Das Material ist auf zweierlei Art entsetzlich. Einerseits bezüglich der Taten, die darin zur Sprache kommen und bezüglich der Ansichten, die damals darüber bestanden, was eine Denkweise offenbart, die mehr als düster ist. Andrerseits aber durch das Zeugnis einer so weitreichenden Brutalisierung und Verrohung von Männern.

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Das erscheint mir vor allem deshalb so entsetzlich, weil wir es hier offenbar in der Mehrzahl genau NICHT mit pathologischen Fällen zu tun haben, sondern mit "Normalos", die uns zeigen, wozu sie nach einiger Zeit Kriegspraxis in der Lage sind; was also passiert, wenn die Normalität Pause macht.

Seit Jahrzehnten beschäftigen mich solche Angelegenheiten, die Bedingungen einer auf Krieg gebürsteten Gesellschaft, die staatlich legitimierte Gewalttätigkeit und wie das gekommen sein mag, was auch noch in mein Leben hereingereicht hat. Ich bin Jahrgang 1956, das Kriegsende lag da zehn Jahre zurück. Ich habe es damals nicht begreifen können, weder der Leib noch der Verstand eines Kindes sind gerüstet, diese Dinge abzuwenden und zu fassen.

Mir war sehr lange rätselhaft, warum ich im Gefühl lebe, ich sei wütend geboren worden und das habe nie geendet. Später war ich -- unter anderem -- über die erbitterte Abwehr verblüfft, wenn ich solchen Themen nachging, auch direkt bei meinen Leuten nachging. Ich habe überdies gestaunt, daß vergleichbar massive, teils irreal begründete Abwehr durch breite Bevölkerungsteile ging, wenn diese Zeit und die kollektive Gewalttätigkeit zur Debatte standen, wenn etwa über Kriegsverbrechen zu reden war.

Heute sind Quellen zugänglich, die Ausmaß und Alltäglichkeit der Verrohung illustrieren, belegen, in denen auch die obszöne Banalität der verübten Grausamkeit deutlich wird. (Vielleicht sollte das banale Obszönität heißen.) Damit verstehe ich nun die Rohheit besser, die einen noch in meinen Kindertagen treffen konnte, welche von einer Skrupellosigkeit war, die mich seinerzeit oft tief verwirrt hat und die mir später, als ich selbst Vater wurde, noch viel unbegreiflicher gewesen ist.

Die Brutalisierung und Verrohung einer Gesellschaft ist offenbar deshalb so brandgefährlich, weil sie so leicht alle Barrieren überwindet, wenn man die passenden Rahmenbedingungen dazu schafft; oder umgekehrt deutlich gemacht: Unsere Abwehrmechanismen gegen Grausamkeit scheinen prinzipiell schwach zu sein, haben gefährlich dünne Bruchstellen.

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Ich habe gerade erst einige Stunden mit einem Mann verbracht, der die Partitur von Gewalt sehr ausführlich kennt. Gottfried Eicher war das uneheliche Kind einer Magd, Vater unbekannt. Als Kind anhaltend mißhandelt und sexuell mißbraucht, ausdauernd Demütigungen ausgesetzt. Als junger Kerl, wie zum Hohn, in die Fremdenlegion gepreßt, in absurder Härte ausgebildet und im Tschad ein versierter Praktiker der Gewalt. ("Ich bräuchte keine Waffe, um jemanden zu töten.")

Mich beschäftigten die Konsequenzen der Überwältigung, die sich -- wie es scheint -- auf kuriose Art auch in den Tätern, nicht nur in den Opfern, festsetzen. Polemsich verkürzt bringt mich all das zu folgendem Schluß: Wir sind äußerst leicht zu Grausamkeiten in der Lage und wir sind überhaupt nicht in der Lage, sie zu ertragen, was meint, wenn wir ihnen ausgesetzt sind, verändert uns das nachhaltig.

Ein deutlicher Hinweis darauf, wie konsequent wir auf Konventionen, Grenzen und gute Gründe für den Gewaltverzicht achten sollten. Aus solchen Bränden werden schnell Feuerstürme ...

 

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