17. August 2010

Der griechischen Tragödie liegt eine Poetik zugrunde, wonach wir nur durch Mitleid und Furcht (wörtlich: "Jammern" und "Schaudern") zur Katharsis kämen. Ich habe das als junger Kerl ebenso merkwürdig gefunden wie Canettis Überzeugung, daß der Tod eine Kränkung sei. Es wird kaum überraschen, daß ich in der Sache noch gründlich belehrt wurde.

In den günstigsten Fällen müssen wir innerhalb eines Lebens lange nichts Näheres darüber herausfinden. Oder wäre das doch anders zu bewerten? Nein, man muß sich den Kummer nicht herbeisehnen, er stellt sich ohnehin gelegentlich ein.

Es liegt eine merkwürdige Radikalität in diesen Momenten, wo Klarheit durchschlägt, daß sich nun etwas, das einem unerträglich scheint, nicht abwenden läßt. Meine eigenen Erfahrungen mit solchen Momenten besagen: Es ver-rückt einen in der Welt, stellt einen augenblicklich und, wie mir scheint, irreversibel auf einen anderen Platz.

Wir fürchten solche Momente zu Recht. Sie haben mich unglaubliche Dinge gelehrt, aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich sie aus meiner Biografie streichen. So widersprüchlich ist das.

Letzten Sonntag hatte ich mit einem Anflug von Übellaunigkeit beklagt, daß recht zeitig und vor allem laut ein Hubschrauber über dem Stadtzentrum kreiste. Ich blickte aus dem Badezimmerfenster und sah das Gerät in der Gegend des Freibades niedergehen.

Eine Bekannte bestätigte mir das, sie wohnt nahe dem Landeplatz. Anderntags las ich: "Bursche stürzte in Baugrube: im Spital gestorben" [Quelle] Was, wenn es mein Sohn wäre, dachte ich. Ich rede mit Gabe nie über diese stets präsenten Phantasien, die mir nicht täglich vor Augen sind, sich aber an genau solchen Berichten immer wieder entzünden.

Ich rede mit ihm nicht darüber, weil ich es für meine Angelegenheit halte, wie ich unterbringe, daß ich gelegentlich fürchte, wir könnten getrennt werden, er könnte aus meinem Leben verschwinden.

Mir war auf der Reise durch das Kosovo an etlichen Plätzen so unerbittlich klar geworden, welche Privilegien wir genießen, in einem Land zu leben, wo einem nicht zugemutet wird, daß ein Leben so wenig zählt. Wir hatten mehrmals auf Boden gestanden, wo erst kürzlich Liebende und Leidende auseinandergerissen, um ihr Leben gebracht worden sind.

log1634a.jpg (29787 Byte)

Karl hat im Kosovo unter anderem dieses Foto gemacht. Es zeigt das Dörfchen Racak, in dem eines der umstrittendsten Massaker des Kosovo-Krieges stattgefunden hat. Flurims Vater stammt von dort. Flurim hatte eben seine Erzählung abgebrochen, weil er ob der Erinnerungen nicht weitersprechen konnte.

Gestern rief mich Karl an. Der gestürzte und im Spital verstorbene Bursche war sein Sohn ...


[kontakt] [reset] [krusche]

33•10