8. Mai 2008 Wir haben
Klarheit, daß über eine Lebensspanne nicht gewußt werden kann, wie weit sie reicht. Wir
haben Vorstellungen, was entschieden zu kurz sei. Manche von uns müssen mit ihrem Leben
weit vor jener Zeit abschließen, die man sich gewöhnlich erhofft.
Manchmal staune ich, wie über diese Dinge gesprochen wird,
oder eben auch NICHT. Dinge, die in Zeiten, da die Kirche noch eine höhere Autorität
besaß, als "Die letzten Dinge" galten. Wo sind nun diese Lebenszusammenhänge
heute als vertraute Themen festgemacht? Wo ist Raum für einen angemessenen Umgang damit?
Ich habe meine Jahrzehnte dauernde Leidenschaft für das Motorradfahren
einmal mit brachialer Todesnähe quittiert bekommen. Es liegen verblüffende Erfahrungen
in solchen Vorfällen. Unter anderem der tiefe Schrecken aus wenigstens zweierlei Quellen:
Daß die Integrität des Leibes aufgebrochen wird, zerrissen wird, und daß einem das
Leben zu verlöschen droht.
Ich denke rückblickend: Man wird durch solcher Ereignisse
in der Welt auf einen anderen Platz gestellt. Ob es einem paßt oder nicht.
Ich hatte damals günstige Bedingungen:
Ein flinker Notarzt, ein sofort verfügbarer Hubschrauber und ein sehr inspiriertes
Chirurgie-Team. Mit so einer Crew im Rücken gelingt es manchmal, ins Leben zurückfinden.
Und die Wunden können geschlossen werden.
Es gibt andere Attacken, da versagen alle Mittel, da enden
alle Möglichkeiten. Solche Ereignisse berühren uns ständig, wir streifen ohnehin
dauernd an sie an.
Diese Woche machte ich einige Autofahrten mit einer
betagten Dame aus meiner Nachbarschaft, die gerade sehr schwer an ihrem Alter trägt, aber
zugleich wohl noch schwerer daran, daß einer ihrer Söhne an Krebs erkrankt ist und
neuerdings keine guten Nachrichten mehr kommen.
Heute schrieb mir jemand, einer tückischen Krankheit
ausgeliefert: "Hoffentlich dauert die gute Phase noch länger an, ich wünsche mir
sehr, daß die Krankheit zum Stillstand kommt."
Vor wenigen Tagen habe ich hier kurz über Christa erzählt, in deren Leben sich kein weiteres Jahr mehr
ausging. Diese Ereignisse sind, wie erwähnt, ständig da; nicht bloß anonym, weil irgendjemanden
betreffend, sondern an allen Ecken und Verstrickungen einer Biographie auftauchend.
Es ist nicht so, daß jetzt völlig niedergeschlagen wäre,
aber aus all dem macht sich eine Traurigkeit breit, nimmt sich Platz, die offenbar eine
Weile anhalten möchte. In solchen Befindlichkeiten erinnere ich mich dann: Wir sind alle
so versehrbar. Wir sollten achtsam mit einander umgehen.
Ich denke auch gerade an mein Gespräch mit dem bosnischen
Dichter Dzevad Karahasan, in dem er zu mir sagte:
"Die Kultur ist vor allem und mehr als alles eine
Ausdehnung des menschlichen Wesens in der Zeit. Eine Auseinandersetzung des Menschen mit
der Vergangenheit, mit der Gegenwart und mit der Zukunft." Anders ausgedrückt:
"Kultur, das heißt glauben, das heißt Erde bearbeiten, das heißt die Toten
begraben. Also Kultur ist unzertrennlich durch Zeit mit unserem Verhältnis zum Tod
verbunden. Am wenigsten ist Kultur eine Kunst bequem zu wohnen. Oder bequem seinem
Nächsten aus dem Wege zu gehen." [Quelle]
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