4. Juni 2006 Als
würde die Sonne gelegentlich, für Augenblick an- und gleich wieder abgeschaltet. Ich
finde inzwischen Gefallen an dieser irritierenden Wetterlage, die allgemein für einen
Juni als unpassend gewertet wird. Zu kalt, zu regnerisch heißt es. Mag sein. Gestern
Nacht hab ich auf einer Runde meine Winterjacke getragen. Das ist doch kurios.
Da hat, so stelle ich es mir vor, sogar ein
Trauernder die Lust am Trauern verloren, den Kranz in den Bach geschmissen und die
Beerdigung ausgelassen. Während an einer anderen Ecke der Stadt die Transformation von
Ideologie zu Lifestyle vorankommt. Ich hab das unlängst
schon am Beispiel Che Guevara bestaunt.
Hier sah ich nun den Nazarener, Sozialismus
nach östlichem Zuschnitt, einen Gangster und die Mater dolorosa in geselliger Aufstellung
(zweite Reihe von unten). Gewissermaßen ein stichhaltiges Statement über Europa.
Dieses Europa, das sich als "westliche
Wertegemeinschaft" ungemindert in Dominanz übt. Das Widerstände gegen dieses
eurozentristische Gehabe kraftvoll zu integrieren versucht. Wobei Klarheit über die
eigenen Identität ausdauernd aufs Spiel gesetzt wird. Denn was uns vor allem hier
ausmacht, rund um Österreich, ist keine Ost-West-Bipolarität. Dieses Motiv greift zu
kurz.
Sagt man hier "Süden", hängen
gefällige Assoziationen dran. Wofür ich übrigens (kleiner Einschub!) dieser Tage in
Graz ein hübsches Exempel gefunden habe. Ein Maserati Indy, rund 30 Jahre alt, stand so
im Vorhof eines Tapezierers. Italienische Sportwagen repräsentieren, wie manch andere
Annehmlichkeit, die wohligsten Vorstellungen von "Süden".
Aber meine Überlegungen gehen ganz wo anders
hin. Ost-West-Vermutungen sind uns geläufig, Nord-Süd-Annahmen fallen dabei leicht unter
den Tisch. Die Bilder und Geschichten handeln von einer völlig anderen Linie. Die man
sich etwa zwischen Wien, Beograd und Istanbul denken kann. Wie einen Kanal. (Auf dem Foto:
Eine Stelle in Istanbul.)
500 Jahre. Ein halbes Jahrtausend. Für
einzelne Menschen unvorstellbar. So lange waren Wien und Istanbul normative Instanzen für
den genannten Raum, Beograd dabei Gravitationsfeld, Relaisstation, Umschlagplatz. Die
Donau ist eine weitere Klammer dieses kulturellen Gesamtereignisses (mit etwas anderem
Verlauf als der gedachte Kanal). Solche Flüsse waren wahrlich Lebensadern menschlicher
Kulturen, bevor es die Eisenbahn gab.
Unsere Identität ist nicht primär eine
Ost-West-Geschichte, mit der wir gerade 50 Jahre zugebracht haben. Sondern 500 Jahre
Latinität, Orthodoxie und Islam in Wechselwirkung. Vor deren Hintergrund sich in der
jüngeren Vergangenheit nationalistische Diskurse breit gemacht haben ...
[Der
Balkan-Reflex]
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