16. März 2006 Ich vermute,
er ist ein eher stiller Mann. Er kann in manchen Momenten wie ein Asket wirken. Und es
gibt ernsthafte Hinweise, daß er früher ein ziemlich wilder Bursche gewesen ist. Ich
habe gestern ein Weilchen mit Chuck
le Monds verbracht. Als Schlaumeierlein wäre mir natürlich eingefallen, das müsse
ein Kanadier sein. Blödsinn! Der Mann wurde in St. Louis, Missouri geboren. Daran allein
könnte man erkennen, daß er aus einem großen Land kommt. Diese Art, zu jedem Ort auch
gleich den Bundesstaat zu nennen. Sowas braucht man bei uns nicht. (Dies ist ein kleines
Land.) Chuck sagt nicht "Mississippi". Er sagt "Mississippi River".
Wie bin ich auf Kanada gekommen? Das französisch
Anmutende. (Ich bin so oft im falschen Moment schlau. Was also dem Komplex "Knapp
vorbei ist auch daneben" geschuldet bleibt.) Kanada.
Weil ich an Jerry dachte. Den ich in Easton, Pennsylvania
kennengelernt hatte. Als Gerardo noch lebte und wir nachts auf meinem gnadenlos
klimatisierten Hotelzimmer Bier aus Flaschen in Papiersäcken tranken, während Jerry, der
Kanadier, mutmaßlich schmutzige Witze über oder mit Eskimos erzählte. Ich weiß es
nicht so genau, weil ich nur wenig davon verstand. Aber manchmal lachen Männer auf eine
Art, da braucht man sich über den Anlaß keine Illusionen zu machen.
Jedenfalls. Jerry hatte nicht Innuit gesagt. Sondern
"Eskimooohs". Und er hatte mir klar gemacht, daß doch kein Mensch
"Monttrreal" sagen würde, sondern "Móhhhnnreál" ... weil das eine
französische Angelegenheit sei.
Also. Chuck. Der hat so vier bis zehn Geschwister. Das
variierte im Laufe der Jahre erheblich. In einer ziemlich verblüffenden Lebensgeschichte,
die ihn unter anderem den Mississippi River entlang geführt hat. Wo es ziemlich viele
Clubs gab. Wo er jede Nacht an einem anderen Ort zubrachte. Wo zwischen vier Stunden
dauernden Auftritten und etwas Sauferei mit den Leuten viel Wasser den Fluß hinunter
rann. Habe ich es schon erwähnt? Chuck ist Musiker. Singer-Songwriter. Und wenn er etwas
über sein Leben sagt, beginnt es zum Beispiel mit dem Satz: "As a child I was
surrounded by books."
Cut!
Ich hab mich gestern in der Halle von Gerhard Orthaber
umgesehn. Und mit ihm die Details für unsere Station am nächsten Samstag geklärt.
"Langsamkeit: Tee trinken". Dann fiel mir auf, daß der Film von Akira Kurosawa
über drei Stunden dauert. Dem ja das Teetrinken und ein paar Takte Akutagawa voraus gehen
werden. Wir werden uns zu dieser Station also gut gefüllte Jausenpakete mitnehmen müssen
...
Cut!
Serbien als Aggressor. Dieses Bild hat sich durchgesetzt.
Milosevic war gewiß der prominenteste Totengräber Jugoslawiens. Aber bei weitem nicht
der einzige. Interessant, daß er von vielen westlichen Kommentatoren und Analytikern gar
nicht als Nationalist eingestuft wird. Sondern als kurzfristig denkender Machtmensch, der
freilich die "nationalistische Karte" kräftig gespielt hat.
Da ist der heute noch in Serbien politisch aktive Vojislav Seselj in
Sachen Nationalismus ein ganz anderes Kaliber. Was muß man sich unter
"Großserbien" vorstellen? Vor allem eine Idee aus dem 19. Jahrhundert. Als die
Osmanen und das Haus Habsburg den Balkan dominiert haben. Ilija Garasanin, Innenminister
des Fürstentums Serbien, hatte um 1843 ein Programm verfaßt, das von einem einheitlichen
Staat für Völker des nahezu gleichen Stammes handelte.
Garasanin meinte ein Gebiet im Umfang von Südserbien und
Montenegro, Bosnien und Herzegowina, dem Sandzak, dem Norden Albaniens, dem Südwesten
Bulgariens, Dalmatien, außerdem Teile zwischen Kroatien und Slowenien.
Das waren zu der Zeit keine ungewöhnlichen Gedanken. Viele
Völker Europas befaßten sich mit der Vorstellung, gegenüber den herrschenden Eliten zu
mehr Eigenständigkeit zu gelangen. Ungarn hatte 1867 den "Ausgleich" mit dem
Haus Habsburg erreicht, womit Österreich zu Österreich-Ungarn wurde. Ich vermute, dieses
Jahr ist von großem Gewicht in der Geschichte europäischer Nationalismen. Vor allem
Ungarn und Tschechen waren damals in ihrem Ringen um Selbstbestimmung eine enorme
Herausforderung für die etablierten Mächte.
Solche Kräftespiele wirkten natürlich auch im Süden. Das
serbische Volk ist das größte unter den südslawischen (yugo-slawischen) Völkern. Heute
etwa gleich wie das Volk Österreichs, rund acht Millionen Menschen zählend. Im
Mittelalter war Serbien ein Königreich gewesen. Das am 28. Juni 1398 den Osmanen
unterlag. In jener "Schlacht auf dem Amselfeld" (Kosovo polje). Um danach, bis
zum Ersten Balkankrieg von 1913, unter osmanischer Herrschaft zu stehen.
Das Lied über Prinz Eugen "den edlen Ritter", in
meiner Volksschulzeit wurde es noch gesungen, erzählt davon, daß die Habsburger ihre
Grenze zu den Osmanen gerne viel weiter südlich gehabt hätten. Was im Ringen um die
"Feste Belgerad" nicht gelungen ist.
Der Kalemegdan, die Festung über Beograd ... Daß ihnen
dabei die südslawischen Völker nur "Manövriermasse" waren, darf man annehmen.
Die Habsburger hatten schließlich vor, den Balkan zu kolonialisieren. (Siehe dazu Ursula Prutsch:
Habsburg postcolonial!) Aber kurz zurück ...
Napoleon änderte die Situation Europas mit großem Tempo
und enormer Wucht. Ivo
Andric hat in seinem Roman "Wesire und Konsuln" beschrieben, wie sich diese
Ereignisse in einer Wechselwirkung zwischen Istanbul, Wien und Paris auf dem Balkan
ausgewirkt haben.
"Hier an der Grenze Bosniens endet ihre
Tapferkeit und ihr sprichwörtliches Heldentum." klagte der Wesir dem Konsul. Daß
sich also die Völker in Zusammenschlüssen gegen andere stärker abgrenzen wollten, daß
sich das auch in "geschlossen besiedelten Territorien" ausdrücken sollte, war
gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein wachsendes Problem für die Herrscherhäuser. Ein
Problemkonvolut, das den Habsburgern, den Hohenzollern und den Romanows bald darauf ihr
Ende bescherte.
[Balkan-Reflex]
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