30. Dezember 2005
Oh hallo! Was darf ich denn da Heißes erwarten, wenn ein
Revolverblatt mit über Jahrzehnte gut gepflegter "Arsch-und-Titten-Sektion"
seine Eins so aufmacht? Porno? Plakate? Von Kunst war auch schon die Rede. (Seufz!)
Wußten wir nicht schon als pubertierende Knaben Ende der 1960er-Jahre, da nacktes Fleisch
kaum wo ausgehängt wurde, daß es in Kunstbildbänden lecker nackte Weiber gibt? (Man
durfte bloß nicht dran denken, daß sie schon ein paar hundert Jahre alt sind.)
Sie merken, ich scherze. Grimmig. Oder amüsiert. (Weiß es
noch nicht so genau.) Die gestrige Ausgabe der "Kronenzeitung" zeigte im Blattinneren nun folgendes, ich habe
dafür einfach die Seiten 9 und 11, wie sie nun mal im Blatt auf einander folgen, in den
Scanner geschoben. Was also prall der Fall ist:
... hat auf der 9 eine Frau ohne jedes auch bloß Fuzzerl
Textil am Leib. Problem? Kein Problem! Dagegen. Das angebliche "Porno-Plakat"
zeigt eine Arbeit von Tanja
Ostojic. (Was die erregten Berichterstatter zu erwähnen vergaßen.) Das Foto
("o.T. / Untitled, 2004") wurde heuer in Graz gezeigt. Bei einer Ausstellung,
die von "Camera Austria" im Kunsthaus realisiert wurde: [LINK]
Ist schon spaßig, daß sich Ostojic die Produktion von
Pornographie vorhalten lassen muß. Wo sie seit vielen Jahren (unter anderem) mit ihrer
Arbeit genau das thematisiert, was man ihr unterstellt: die Ausbeutung des weiblichen
Leibes. (Siehe dazu auch den Essay "The Emptiness of the Female Body" [LINK] der
Politologin Monika Mokre.)
Mißt man also die Reaktionen unzähliger meiner
Landsleute, gar nicht wenig politische Prominenz darunter, an den auffindbaren Intentionen
der Künstlerin Ostojic, muß man verblüfft feststellen: Die Leute haben ganz genau
kapiert, was mit solchen Szenen gespielt wird. Sie wissen es so gut und reagieren so
heftig, daß sie die Ursache und die Reaktion darauf mit einander verwechseln, da Ostojic
ihnen doch genau diesen Zusammenhang vorführt.
Nicht mal die Annahme einer "Ironisierung der
EU", wie sie im Blatt geäußert wird, kommt halbwegs auf den Punkt. Es ist doch eher
eine Ironisierung von Voyeuren.
Was genau sehen wir denn eigentlich? Vielleicht das
Höschen der Frau Europa? Genauer genommen: ein allegorisches Höschen. Denn. Das ist eben
nur eine Allegorie, Europa in einer Frauenfigur zu zeigen. Ein Bildnis, um damit etwas
anderes auszudrücken als zu sehen ist.
Wie ich etwa im Grazer Stadtpark die Dame
"Styria" sehen kann ... als Allegorie des Bundeslandes, in dem ich lebe, der
Steiermark.
Europa ist allerdings auch eine Figur aus der Mythologie.
Die Tochter des phönizischen Königs Agenor. Zeus hatte sie so heftig begehrt, daß er
sich in einen Stier verwandelte und Europa nach Kreta entführte. In der Folge gebar sie
Minos. Aber. Die Arbeit von Ostojic hat einen wesentlich subtileren Hintergrund. (Ein
Schelm, wer etwa an Begriffe wie "Eurozentrismus" denken wollte, wenn einem
deutlicher wird, auf welche Motive und Aspekte sich die Künstlerin mit der umstrittenen
Fotografie eingelassen hat.)
Sie paraphrasiert ein Gemälde von Gustave
Courbet: "Der Ursprung der Welt (LOrigine du monde)" [Quelle: Wikipedia].
Ist man auch bloß kursorisch orientiert, was in der Kunst Ex-Jugoslawiens über
Jahrzehnte zur Debatte stand (Ostojic stammt aus Serbien), findet man mehr als nur den
ironischen und kritischen Kontext, den die Künstlerin ihrer Arbeit gibt. |
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Man wird seit den 1970er-Jahren
zahlreiche Beispiele finden, da international renommierte Kunstwerke von serbischen
Kunstschaffenden aufgegriffen, teils verschmitzt dupliziert, teils radikal umgeschrieben
wurden. Macht nix! Muß man alles nicht wissen. Eine Erregung über das Zitat eine
Kunstwerkes aus dem 19. Jahrhundert, das natürlich längst kanonisiert ist, hilft uns im
21. Jahrhundert darüber hinwegzutäuschen, daß dieses Land sich bei so mancher Sache
weigert, in der Gegenwart anzukommen. Wie hieß es in der "Krone"?
"Auch die 44-jährige Angestellte
Susanne Rehorn packte angesichts der Obszönitäten das blanke Entsetzen."
Es soll Zeiten gegeben haben, da durften
Mädchen ihre Unterkleider nicht ablegen, während sie sich wuschen ...
[Wir
Kinder des Kalten Krieges]
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