5. Juli 2005 Wenn ich
meine, wir seien "Kinder des Ressentiments", müssen wir uns vielleicht auch auf
die Möglichkeit von abwertenden "Balkan-Reflexen" prüfen lassen? Der launige
Bürgermeister von Graz, Siegfried Nagl, hat letzte Woche wissen lassen:
"Graz war immer das letzte Bollwerk eines
westlichen Europas gegenüber den türkischen Übergriffen." (Quelle: "Der Standard")
Dabei fällt mir auf, der Gute hat in seiner Volksschulzeit
wohl nie das "Prinz Eugen-Lied" gesungen. Sonst wüßte er, daß die
"Festung Belgerad" etwas südlich von Graz liegt. Der Kalemegdan von
Beograd war unter österreichischer Besatzung eine der stärksten Festungen Europas. Der
Savoyer, der bei Frankreichs König abgeblitzt war, um dann bei den Habsburgern eine
sagenhafte Karriere als Feldherr hinzulegen, focht mit den Osmanen mehrmals um diese
Stellung.
Aber das war keinesfalls vor allem ein Match des
"Westens" gegen den "Orient". Die Türken sind zum Beispiel zeitweise
Verbündete der Franzosen gewesen. Es war vor allem ein Kampf von Herrscherhäusern, ein
Ringen zwischen Hoher Pforte und Wiener Hof.
Cut!
Ebenso kurios finde ich den vorwöchigen Wahlkampfauftakt
der steirischen Grünen. Die in
ihrer aktuellen Ausgabe des "impuls grün" reichlich rot sehen. Und den
Stadtpolitiker Ernst
Kaltenegger mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic assoziieren.
Hat es übrigens in diesem Abendland seinen Sinn und Wert,
daß man VOR Abschluß eines regulären Verfahrens und VOR einem rechtskräftigen Urteil
sich der Unschuldsvermutung verpflichtet fühlt? Auch wenn die Annahmen von Schuld
erdrückend erscheinen? Wäre demnach doch besser zu unterscheiden zwischen einem
"mutmaßlichen Kriegsverbrecher" und einem "Kriegsverbrecher"? Ich
frag mal nach, was genau gemeint war ...
Cut!
Es heißt vielfach, Peter Handke habe in einigen seiner
Bücher den Krieg und die Verbrechen der serbischen Soldateska verharmlost. Es heißt
vielfach, er habe sich auf die Seite eines serbischen Nationalismus geschlagen. Kann ich
aber nicht feststellen, wenn ich die beiden Bücher lese, die dabei immer wieder zur
Debatte stehn:
"Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder
Gerechtigkeit fuer Serbien" (1996)
"Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise" (1996)
Den ersten der genannten Bände habe ich hier schon in
einigen Details durchgenommen. (Was in dieser
Übersicht nachgesehen werden kann.) Es gibt darin definitiv keine Passage, die man
Handke vorhalten könnte. (Oder doch? Dann: welche genau?) Bleibt der zweite Band zu
prüfen.
Da der Dichter nicht für Boulevardblätter schreibt, wird
man auch das Explizite, den "Splatter-Punk" nicht erwarten können. Um das
Implizite wahrzunehmen, wird man natürlich etwas guten Willen und Kenntnis von Kontext
aufbringen müssen. Wenn Handke einen wesentlich jüngeren Mann folgendes sagen läßt,
was darf man dann als dessen Erlebnisse vermuten? Wovon handelt diese kleine Szene wohl?
" Und
zum Abschied dann die Bemerkung des jüngsten der Grenzer, des Offiziers, des jüngsten
überhaupt von uns drei-in-drei: »Wie jung seht ihr aus. So jung möchte ich auch noch
einmal aussehen.«"
Cut!
Noch mal Karl Kaser und sein Buch über Südosteuropa. Von ihm
hatte ich ja vor über einem Jahrzehnt den Hinweis bezogen, daß "Balkan" ein
sehr verschwommener und vielfältig belasteter Begriff sei. Vor allem die Abgrenzung nach
Norden sei immer sehr unscharf gewesen, nach 1918 erst einer klareren Begriffsbildung
näher gebracht. Um dabei wertneutraler und ideologisch weniger belastend vorzugehen,
stand als neuer Terminus "Südosteuropa" zur Debatte. Allerdings wurde der
Begriff in der Nazi-Ära sehr belastet.
Kaser hat diese Erörterung 1990 so aufgelöst:
"Südosteuropa ist keine abstrakte, theoretisch entworfene Begrifflichkeit. Der
südöstliche Teil Europas ist eine Einheit - eine Einheit in der Vielfalt."
Inzwischen hat aber der Sezessionskrieg im einstigen
Jugoslawien den Begriff "Balkan" mit einiger Wucht im öffentlichen Diskurs
durchgesetzt. Mir sind keine anderen Zuschreibungen als annähernd so mächtig bekannt.
Ich bin gespannt, zu welchen Definitionen die südslawischen Völker selbst sich
mehrheitlich entschließen werden.
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