10. März 2005Der Film "Gönül
yarasi" ("Verwundete Seelen") von Yavuz Turgul beginnt in einem kleinen
Dorf Anatoliens. Wohin nicht einmal Straßen führen. Mulis tragen die Lasten in einer
äußerst kargen Landschaft. Der Lehrer Nazim verabschiedet sich von den Kindern, denn er
wird pensioniert. Er mahnt die Kleinen, sich nicht statt zum Unterricht aufs Feld schicken
zu lassen. Er sagt den Mädchen, sie sollen sich nicht für Geld verheiraten lassen. Er
rät den Kindern, sogar Strafe in Kauf zu nehmen, aber: "geht weiter zur Schule.
Lernt die Welt zu verstehn."
Es ist im Kern genau das, was Immanuel Kant vor etwas mehr
als 200 Jahren unserer Kultur empfahl, ohne daß es sich gar so rasch durchgesetzt hätte:
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung anderer zu bedienen. ..."
So beginnt der berühmte Aufsatz "Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung?" vom Dezember 1783. Wir rufen das gerne anderen zu, aber
es im eigenen Land rückhaltlos zu forcieren ... naja ...
Ooooh! DAS war aber nett. Kaum geht in der Türkei die
Polizei gegen demonstrierende Frauen los, entrüstet man sich quer durch meine Heimat
über dieses Volk. Ich bin ganz gerührt, wie groß die Sorge um islamische Frauen unter
meinen Mitmenschen neuerdings ist.
Auch wenn am nämlichen Tage unsere Innenministerin eine
"Kopftuchdebatte" lostritt. Und damit Muslimas in Österreich, naja, räusper,
hüstel, doch ganz erheblich, zugleich völlig unnütz unter Druck bringt. Da die
Abwehrreflexe locker sitzen, wenn es hier um "den Islam" geht, der überdies
nicht all zu gerne von islamistischen Terror-Sekten unterschieden wird. Was man also
Muslimen aufbürdet, wenn man unbedacht loslegt. (Quelle: "Der Standard")
Das war also ganz schlau von dieser ÖVP-Politikerin. Und damit
die Schüsse auch so richtig ins eigene Knie gehen, lese ich nun Statements wie:
"Ein schnelles Timeout der
Beitrittsverhandlungen wäre angebracht."
Neeein, ganz egal, wie es DORT zugeht, wo uns doch schon
egal ist, wie es in Ex-Jugo zugeht, die sollen alle erst mal brav Zivilisation lernen. Und
wie das mit den Menschenrechten so läuft. Sonst reden wir mit denen nicht. Aus! Auch wenn
derweil vielleicht der Kaukasus hochgeht, weil zum Beispiel ein zerrüttetes und
deklassiertes Rußland mit seinen Nachbarn immer brutaler umspringt. Was uns, falls es
passiert, garantiert EBENSO um die Ohren fliegt. Dann brennt nämlich auch Europa ganz
schnell, falls Stellungen der Menschlichkeit nicht zuverlässig halten.
Aber woher kriegen wir die dann? Die starken Stellungen der
Menschlichkeit? Wurscht! Wir sind wir und wir haben das alles schon hinter uns und wer
hier her kommt, soll sich benehmen, ansonst ab in die Wüste ... oder so ... Saupreußen,
türkische!!! (Variation nach Karl Valentin.)
Hoppla! Halt! Wir die Leuchten der Menschenwürde und dort
die Barbaren? Moment mal!
Ach! Die arabische Kultur war unserer bis ins Mittelalter
hinein weit überlegen? Ach! Wir haben unsere abendländischen Werte, zum Beispiel viele
Hauptwerke der griechischen Philosophie, in Übersetzungen aus der arabischen Kultur
zurück erhalten, weil sie bei uns verloren gegangen waren?
Ach! Bevor die Osmanen auf die Idee kamen Wien zu belagern,
haben europäische Fürsten einige Kreuzzüge losgeschickt. Es haben also WIR angefangen.
Ach! Auf dem Weg nach Jerusalem hat sich die europäische
Ritterschaft auch gleich mal in Judenmassakern geübt. (Na, DAS Programm war nachhaltig.)
Ach! Bevor Napoleon Europa über den Haufen schmiß, war
bei uns auch nicht gerade viel los, was Christlichkeit und Nächstenliebe eigentlich
empfehlen würden. Und dann? Ja, stimmt! Frankreich hatte Napoleon. Und WIR ....
Metternich.
Immanuel Kant ist damals erst kurz tot gewesen. Die
Aufklärung, hm, genau, die kam doch erst sehr langsam in Gang. Schauen wir mal. 200
Jahre. Wie lange sind 100 Jahre? Mein Großvater hatte eine Jahrhundertwende
überschritten und dem Kaiser gedient. Mein Vater hat Hitler gedient. Ich hab wieder eine
Jahrhundertwende überschritten. Genau! 100 Jahre sind kurz. Drei Generationen.
Wir Abendländer und -innen ... Metternich und sein
Spitzelsystem. Kaiser Franz Josef und sein Kettenhund von Hötzendorf, die den
grauenhaften Ersten Weltkrieg losgetreten haben. (Da war mein Opa schon live dabei.)
Der autoritäte Ständestaat unter Dollfuß. Hitler. (Bis
heute sind viele Opfer der faschistischen Banditen nicht entschädigt.) Wow! Wir haben die
Zeit seit Beginn der Aufklärung wirklich genutzt, um über Demokratie etwas
herauszufinden. Und der Türkei zuzurufen, wie Abendland geht.
Wenn man nun beachtet, wie brisant sich der Kaukasus
politisch und gesellschaftlich entwickelt, wenn man die Labilitäten Südosteuropas
einrechnet, kann man hier eigentlich nur daran Interesse haben, daß sich in einer Linie
über Beograd, zur Türkei hin, Stabilität erreichen und sichern läßt.
Weder Kommunikationsverweigerung, noch Kopftuchverbote,
noch ähnliche Demonstrationen politischer Ratlosigkeit werden dazu beitragen können.
Also bitte zur Sache, wertes Personal der Politik!
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