Beograd (10)
Es kursiert noch die scherzende Zuschreibung
"Titos kleiner Pionier". Was ein wenig mehrdeutig, wie mir scheint, einerseits
einen streberhaften Menschen meinen kann. Der sich brav den gängigen Pflichten widmet.
Andrerseits ein Stück Identität aus einem versunkenen System anrührt. An
Kindheitserlebnisse geknüpft. Wie etwa an jene Stafette, die Tito zu seinem Geburtstag
Grüße der Jugend aus dem ganzen Land überbrachte. Wobei unzählige Schulklassen in
einem Sportstadion für den Marschall zu "gymnastizieren" hatten. Und ein Dorf
sich Schande holte, weil das maßgebliche Mädchen die zugewiesene Markierung verfehlt
hatte. Was die ganze Gruppe aus dem Konzept brachte, ihrem verantwortlichen Lehrer
Wutausbrüche verursachte, während die Kinder heulend durch das Programm hechelten;
überzeugt, daß der Marschall unter den vermutlich Tausenden Menschlein genau sie und
ihren verpatzten Auftritt sofort im Auge habe.
Oder die Geschichte von dem Mädchen, das seine
Jungfräulichkeit genau am Geburtstag der besten Freundin verloren hat, die wiederum ihre
Jungfräulichkeit am Geburtstag Titos verloren hat. Was vermutlich in keinem kausalen
Zusammenhang stand.
Ich wollte mir das Mausoleum dieses Mannes ansehen. Ein
legerer Wachposten. Ein marmorner Sarkophag. Bodenfliesen, die aussehen, als wären sie im
nächsten Baumarkt geklaut worden. Das halte ich für einen beruhigenden Umgang mit
nationaler Ikonographie. Oder ist das in Serbien doch etwas komplexer angelegt? (Mehr als
mein halbes Leben war ich der Meinung, es würde "Sakropharg" heißen.)
Titos Pioniere waren für uns Titos Partisanen ... so der
Klang aus meinem Kindertagen. Es ist recht erstaunlich, daß sich in Österreich bis heute
völkische Haltungen finden lassen, die sich auf eine lebhaft gepflegte Furcht vor
anrückenden Slawen, symbolisiert durch die Phantasie von Titos Partisanen, gründen.
Um so erstaunlicher, weil es ja eigentlich unsere Leute
waren, die unterm Kaiser Franz Josef und unterm Landschaftsmaler Hitler immer wieder den
Balkan verwüstet haben. Nein, genauer genommen schon unter Prinz Eugen, der sich dort
für das Haus Habsburg Schlachten mit den Osmanen geliefert hat.
Während mir kein Beispiel bekannt ist, daß Südslawen von
sich aus hier bei uns aufmarschiert wären. Und selbst als wir sie dann hergebeten
haben, mußten sie sich unter dem Stigma "Gastarbeiter" erneut dämonisieren
lassen. Wir haben die Slawen immer benutzt, so weit ich die Geschichtsschreibung einiger
Jahrhunderte überblicke.
So weiß ich nie genau, wenn ich mich durch Beograd treiben
lassen, ob ich gerade sehe was ich sehe, ob ich den eigenen Klischees meiner Kindheit
begegene und aufsitze, den Motiven des kalten Krieges, ob erkennbar wird, was hier die
Menschen eigentlich ausmacht ... ich weiß es nicht.
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