Fünf Tage Polen (8)
Europa, das finde ich nicht in den Versen
von Professoren und anderen Herren in gut geschnittenen Anzügen, mit gepflegten Bärten
und oder nacktem Kinn, mit reichlich Haaren auf dem Kopf oder doch eher spärlichem Besatz
... Europa, das finde ich nicht in solchen Studierzimmern.
Europa, das finde ich in Gdansk, wo
Arbeiter mit ihren Leibern und ihrem Leben eingestanden sind, um den Lauf der Dinge zu
ändern. Europa, das finde ich in Sarajevo, wo Moslems, Juden, Christen und Orthodoxe an
ihrer Gemeinschaft geblutet haben.
Europa, das finde ich in Sankt Peterburg,
wo ich am Stadtrand über einen Bunker stolpere, welcher an die mehrjährige Blockade
durch die Deutsche Wehrmacht erinnert, an das grausame Sterben, das der Hunger und der
Mangel an allem den Opfer aufgebürdet hatte. Deren Kindern und Enkeln man dort über den
Weg, manchmal in die Arme läuft.
Sind das die Menschen, denen wir nun
Latein beibringen wollen?
Da sollte uns nach den letzten 200 Jahren
ausgesuchter Grausamkeiten doch etwas besseres einfallen. Etwas das von der Praxis des
Kontrastes handelt. Nicht von der Nivellierung der Differenz. Denn die Erfahrung mit
Kontrasten, daran ist dieses Europa reich. Ich fand es in einigen Zeilen eines Buches, das
ich hier, in Katowice, gelesen hab, sehr treffend skizziert. Der serbische Autor Ivo
Andric beschrieb in Wesire und Konsuln solche Kontraste am Beispiel
eines Konsuls, der von Napoleon ins osmanisch regierte Bosnien geschickt wurde, dem ein
junger Beamter folgte:
So war der junge des Fossés
nach Bosnien gekommen, das seine Versprechen und Drohungen gleich bei der ersten Begegnung
wahrmachte, ihn immer mehr mit der schneidenden, kalten Atmosphäre armseligen Lebens
umgab und ihn vor allem in seiner Stille und Einsamkeit begrub, mit der er nunmehr so
viele Nächte rang, wenn sich der Schlaf seiner nicht erbarmte und von keiner Seite Hilfe
kam.
Das handelt von den anderen Stellen
in Europa, die ich eingangs erwähnt habe, die freilich auch in den wohlhabenden
Ländern des Westens zu finden sind, die da wachsen, weil reiche Menschen sich selbst
bestätigen, daß ihr Reichtum der beste Beweis sei, wie tüchtig sie ihre Mittel erworben
hätten. Das nimmt besorgniserregend zu. Das lernt man auch in anderen Ländern von uns.
Die daraus resultierenden sozialen Folgen und Nachteile sind Anlaß, wieder in die alten
Waffenschränke des Nationalismus zu greifen.
Wir haben wenig Anlaß Hymnen zu singen.
Schon gar nicht in Latein, dem alten Code des weströmischen Reiches. Eva Ursprung
bemerkte dazu, da standen wir zu Füßen eines mächtigen Reiterstandbildes von Polens
Nationalheld Jozef Pilsudski: Na wenn schon eine Hymne, dann wenigstens eine in
Esperanto. Das versteht dann gar keiner.
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