Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#90)

 

Kapitel III

 

 

Konklusion (c)


Was haben wir denn gelernt von dieser angeblichen Religion, die sich eine geoffenbarte nennt? Nichts für die Menschheit

Nützliches, und alles, was des Schöpfers unwürdig ist. Was lehrt uns das Alte Testament? Vergewaltigung und grausames

Morden. Was lehrt uns das Neue Testament? Daran zu glauben, daß der Schöpfer eine Frau kurz vor ihrer Hochzeit

geschwängert hat: und das nennt man dann einen Glauben.


Was die wahllos und spärlich eingesprengten Reste von Moral angeht, die sich in diesen Büchern wohl auch finden, so

handelt es sich nicht um einen wesentlichen Bestandteil dieser angeblichen Religion der Offenbarung. Es sind durchwegs

Diktate unseres angeborenen Gewissens, ohne das eine Gesellschaft nicht existieren könnte und das über alle Religionen

und alle Gesellschaften hinweg dasselbe ist.


Das Neue Testament fügt diesem Gewissen nichts Neues hinzu, und wo versucht wird, es zu übertreffen, wird die

Geschichte lächerlich und banal. Die Doktrin, zugefügtes Leid nicht zu vergelten, ist im Buch Sprichwörter viel besser

zum Ausdruck gebracht - einer Sammlung von Texten der Heiden und Juden. So heißt es etwa in Sprichwörter XXV, Vers 21:

"Wenn dein Feind hungert, gib ihm Brot zu essen, wenn ihn dürstet, gib ihm Wasser zu trinken."* Wenn aber dann

im Neuen Testament zu lesen ist: "Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin", dann

zerstört das die Würde der Nachsichtigkeit und erniedrigt den Menschen zum Spaniel.


"Den Feind lieben" ist ein weiters Dogma dieser geheuchelten Moral - und zudem völlig sinnlos. Dem moralischen Menschen

ist es eine Pflicht, erlittenes Leid nicht zu rächen. Das ist auch aus der politischen Perspektive sinnvoll, denn diese Rächerei

hätte kein Ende, zumal jeder Rächer sich im Recht sähe. Aber auf ein Unrecht mit einem äquivalenten Ausmaß an Liebe

zu antworten, hieße (sofern so etwas überhaupt machbar wäre), dem Verbrechen eine Belohnung anzubieten. Außerdem

ist das Wort "Feinde" viel zu unpräzise, um in einer guten moralischen Maxime Verwendung zu finden - eine solche sollte

stets klar und wohl definiert sein: wie im Sprichwort.


Wenn jemand aus Versehen oder aufgrund eines Vorurteils eines anderen Feind geworden ist, wie man es etwa zwischen

den religiösen Meinungen vorfindet, manchmal auch in der Politik, dann ist dieser Feind klar von einem zu unterscheiden,

der eine kriminelle Tätigkeit plant. Es ist im letzteren Fall unsere Pflicht, abgesehen davon, daß es auch zu unserer Beruhigung

beiträgt, solche Individuen so gut wie möglich einzusperren. Aber selbst ein falsches Motiv im Herzen des einen kann nicht zum

Motiv des anderen werden, diesen zu lieben. Wenn behauptet wird, wir könnten aus freiem Willen jemand anderen lieben, völlig

ohne Motiv, dann ist das sowohl moralisch wie psychologisch Unsinn.


Die Sittlichkeit wird angegriffen, wenn man von ihr verlangt, was ein Mensch nicht leisten kann. Aber selbst wenn diese

angeblichen Pflichten möglich wären, so resultierten sie doch nur in Unheil - indem sie, wie oben gesagt, dem Verbrechen

noch eine Prämie aussetzten. Die Maxime "Füge keinem ander´n zu, was du nicht willst, das man dir tu´" enthält keineswegs

diese seltsame Doktrin der Feindesliebe: Denn kein Krimineller erwartet sich Liebe im Gegenzug zu seinen Verbrechen oder

seiner Feindseligkeit.


Meistens sind diejenigen, die diese Doktrin der Feindesliebe predigen, die größten Verbrecher - und sie handeln dabei sogar

gemäß ihrer eigenen Vorschrift: Denn diese selbst ist scheinheilig - und Scheinheiligkeit besteht gerade darin, das Gegenteil

davon zu tun, was man predigt.


* Im Bericht über die sogenannte Bergpredigt im Buch Matthäus, wo unter vielerlei anderen schönen Sachen

auch ein Großteil dieser scheinheiligen Moral ausgebreitet wird, heißt es ausdrücklich, daß diese Haltung der Nachsichtigkeit

oder des Nicht-Heimzahlens nicht Teil der jüdischen Lehre war. Da man diese Doktrin aber schon im Buch Sprichwörter

findet, kann sie folglich nur von den Heiden stammen, von denen auch Jesus sie aufgeschnappt hat. Diese Menschen, von den

christlichen und jüdischen Götzendienern unflätig als Heiden beschimpft, hatten um einiges klarere Ideen von Recht und Moral,

als man sie im Alten oder Neuen Testament finden kann. Solons Antwort auf die Frage, welches die beste Form der

Regierung sei, ist immer noch unübertroffen und enthält eine klare Maxime politischer Moral: "Diejenige, in der die geringste

Untat am schwächsten Mitglied der Gesellschaft als eine Verletzung der Verfassung angesehen wird." Solon hat etwa

500 Jahre vor Christus gelebt. - Der Autor.


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Photo: Hintertürchen beim Stephansdom, 1010 Wien

 


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