Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#87)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (q)
Dasselbe gilt auch für den Rest des Neuen Testaments. Immerhin stützt sich die Theorie der sogenannten Christlichen
Kirche ja nicht auf diese Briefe, sondern auf jene vier Evangelien, die den Herren Matthäus, Markus, Lukas und Johannes
zugeschrieben werden, und außerdem noch auf die angeblichen Prophezeiungen. Besagte Briefe lassen sich ihrerseits
wieder auf diese beiden Quellen zurückführen - und also müssen sie deren Schicksal teilen: Wenn nämlich die Geschichte
von Jesus Christus erfunden ist, zerbröselt jede Argumentation, die sich auf ihr als einer Wahrheit abstützt.
Wir wissen aus der Geschichte, daß einer der bedeutendsten Führer dieser Kirche, nämlich Athanasius, zur Zeit der wirklichen
Entstehung des Neuen Testaments gelebt hat.* Wir können nun vom absurden Geschwafel, das uns dieser Herr unter dem
Titel eines Glaubensbekenntnisses hinterlassen hat, auf den Charakter jener Männer schließen, die das Neue Testament
zusammengestellt haben. Aus derselben historischen Quelle wissen wir auch, daß die Authentizität der Quellen schon zur
damaligen Zeit geleugnet worden ist. Nur aufgrund einer Abstimmung von Gesellen wie dem Athanasius wurden die Texte
zum Wort Gottes erklärt: Es kann uns nichts Seltsameres aufgetischt werden als ein Wort Gottes, das per Abstimmung
dekretiert wird.
Diejenigen, die ihren Glauben auf solche Autoritäten aufbauen, setzen Menschen an die Stelle Gottes und haben keine
echte Basis für wahre Freude. Leichtgläubigkeit selbst ist ja kein Verbrechen, aber sie neigt zum Kriminellen in Form
widerborstiger Überzeugung. Im Schoß des Gewissens bringt sie alle Bemühungen um, nach der Wahrheit zu suchen.
Niemals sollten wir uns einen Glauben aufzwingen lassen.
Ich beende hiermit meine Abhandlungen über das Alte und das Neue Testament. Die verwendeten Beweise entstammen
den Büchern selbst und funktionieren daher wie ein zweischneidiges Schwert. Wenn die Beweise geleugnet werden, fällt
in diesem Leugnen auch die Authentizität der heiligen Schrift. Wenn die Beweise akzeptiert werden, ist damit die Authentizität
der Bibel widerlegt. Der widersprüchliche Unsinn, den man sowohl im Alten als auch im Neuen Testament findet, gleicht einem
Mann, der zugleich die Wahrheit und ihr Gegenteil fest beschwört: Irgendein Beweis wird ihn des Meineids überführen, und
zugleich ist seine Reputation dahin.
Sollten das Alte und das Neue Testament nun dem Verfall preisgegeben worden sein, so war das nicht meine Tat: Ich habe
nur aus dem Haufen unsinnigen Geschreibes alle Beweisstücke gesammelt und so angeordnet, daß man sie unter hellem
Licht klar sehen und leicht verstehen kann. Mehr bleibt nicht zu tun - die Leserschaft möge nun ihre Schlüsse ziehen,
wie auch ich die meinen gezogen habe.
* Laut Kirchenchronik starb Athanasius im Jahr 371 nach Christi Geburt. - Der Autor.