Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#85)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (0)
Einmal alle Argumente beiseite lassend: Das Bewußtsein über die Existenz ist die einzig vorstellbare Idee, die wir
von einem anderen Leben haben können, und die Fortsetzung dieses Bewußtseins ist die Unsterblichkeit. Dieses
Bewußtsein über die Existenz, also daß wir um unser Dasein wissen, ist nicht notwendiger Weise auf die selbe Form
beschränkt, ja nicht einmal auf dieselbe Materie - nicht einmal in diesem einen Leben.
Wir haben nicht alle dieselbe äußere Form, noch bestehen wir alle aus dem selben Material, aus dem wir noch
vor zwanzig oder dreißig Jahren bestanden haben. Dennoch wissen wir, daß wir dieselben Personen sind. Arme und
Beine, die beinahe die Hälfte unseres Körpers ausmachen, sind für dieses Bewußtsein nicht nötig: Sie können verloren
gehen oder abgenommen werden - unser Existenzbewußtsein bliebe intakt. Würden Flügel oder andere Anhängsel ihre
Stelle einnehmen, so könnten wir uns doch nicht vorstellen, wie das unser Bewußtsein verändern sollte.
Kurz, wir wissen nicht, wieviel oder besser wie wenig und wie winzig dieses Etwas unserer Zusammensetzung ist,
das in uns genanntes Bewußtsein erzeugt. Alles übrige ist wie das Fruchtfleisch eines Pfirsichs, klar und deutlich vom
lebendigen Kern zu unterscheiden.
Wer weiß schon, durch welche ungemein feine Wirkung von winziger Materie ein Gedanke in dem von uns so genannten
Geist entsteht? Aber dieser eine Gedanke, so wie der, den ich hier aufschreibe, hat das Potential, unsterblich zu werden -
und es ist das einzige Produkt menschlicher Schaffenskraft, das dies vermag. Marmorstatuen oder Blechbüsten werden
zerstört - ihre Imitate sind nicht dieselben Statuen, zeugen nicht von derselben Kunstfertigkeit, wie auch die Kopie
eines Bildes kaum für das Original herhalten kann. Aber man drucke einen Gedanken abertausende Male, auf verschiedenen
Materialien, man ritze ihn in Holz oder meißle ihn in Stein - der Gedanke ist ewig und bleibt in jedem Fall derselbe. Er
hat die Möglichkeit zu unbeeinträchtigter Existenz, er leidet nicht unter einer Veränderung des Materials: Er bleibt klar und
unterscheidet sich von allem übrigen, das wir kennen oder uns vorstellen können.
Wenn aber das Produkt die Kapazität zur Unsterblichkeit hat, dann ist die Annahme nur natürlich, daß die sie produzierende
Kraft dasselbe Potential haben wird - und diese Kraft ist eben das Existenzbewußtsein. Es ist unsterblich, unabhängig davon,
mit welcher Materie es zunächst verknüpft war oder in welchem Werk es sich zuerst manifestiert hat. Die eine Idee ist
nicht schwieriger zu glauben als die andere, und wir können einsehen, daß beide wahr sind.
Wie wenig dieses Existenzbewußtsein von ein und derselben Form oder Materie abhängt, können wir rasch an der
Schöpfung beobachten, sofern unsere Sinne fähig genug sind, solche Beweise wahrzunehmen. Eine Vielzahl von Lebewesen
predigt zu uns über die Unsterblichkeit - und wesentlich besser als Paulus. Ihr kurzes Leben stellt eine Erde und einen
Himmel dar, eine Gegenwart und eine Zukunft, und umfaßt, wenn man so möchte, eine Unsterblichkeit en miniature.
Die schönsten Tiere der Schöpfung sind die Insekten - aber sie sind es nicht von Beginn an. Sie erwerben ihre Form und
ihre unnachahmliche Brillianz in einer Reihe von Veränderungen. Die langsame, kriechende Raupe von heute verläßt die
Welt in wenigen Tagen, um in einen todesähnlichen Zustand zu verfallen - nur um in der nächsten Veränderung mit
all der kleinen Pracht hervorzubrechen, die das Leben bereithält: Als Schmetterling.
Keine Spur von der vorangegangenen Form ist erhalten, alles ist verändert, alle Kräfte des Wesens sind frisch, und das Leben
ist für diese Kreatur ein völlig anderes. Wir können uns nicht vorstellen, daß das Existenzbewußtsein sich in diesem
Schritt geändert haben sollte: Warum also sollte es für mich nötig sein, an die Auferstehung desselben Leibes zu glauben,
um eine Fortsetzung meines eigenen Existenzbewußtseins für möglich zu halten?