Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#83)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (m)
Jeder einzelne von den vielen Priestern und Pfaffen heutzutage, Bischöfe natürlich eingeschlossen, kann eine
Predigt schreiben oder ein Stück Latein übersetzen, zumal wenn es schon tausendmal übersetzt worden ist.
Aber gibt es auch nur einen unter ihnen, der eine Dichtung wie die des Homer zustande brächte? Ein wissenschaftliches
Werk wie das des Euklid? Die Gelehrtheit eines Pfaffen beschränkt sich, mit wenigen Ausnahmen, auf a b ab und
hic, haec, hoc. Von der Wissenschaft wissen sie gerade noch, daß drei mal eins eins ergibt. Immerhin mehr, als
zum Schreiben aller Bücher des Neuen Testaments nötig gewesen wäre.
Waren schon die Möglichkeiten zur Fälschung größer, um wieviel größer mußte die Verführung dazu gewesen sein.
Keiner konnte einen Vorteil daraus beziehen, wie Homer oder Euklid zu schreiben. Wäre er gleich gut wie die
beiden, so wäre es wohl besser für ihn, unter dem eigenen Namen zu publizieren. Wäre er aber schlechter, hätte er
keine Aussicht auf Erfolg. Stolz würde den ersten Fall verhindern, Aussichtslosigkeit den zweiten. Wenn man sich aber
die Bücher ansieht, aus denen das Neue Testament besteht, so liegen alle Anreize auf Seiten der Fälschung: Die
beste erfundene Geschichte wäre nach einem Zeitraum von zwei- oder dreihundert Jahren schwerlich als ein Original
durchgegangen, wenn man sie unter dem Namen des wirklichen Autors veröffentlicht hätte. Die einzige Chance
auf Erfolg bestand in der Fälschung, die Kirche benötigte eine Täuschung für ihre Doktrin: Wahrheit und Talent kamen
also beide nicht in Frage.
Wie schon zuvor bemerkt, war es zu jener Zeit nicht unüblich, Geschichten über Personen zu hören, die nach ihrem
Tod spazieren gegangen waren, oder über Geister und Erscheinungen von Leuten, die unter brutalen oder unüblichen
Umständen ums Leben gekommen waren. Die Leute damals glaubten an solche Dinge, an den Besuch von Engeln
und auch von Teufeln und daran, daß sie in einen eindringen konnten, um einen durchzurütteln wie in einem Anfall
von Schüttelfrost und danach wie durch ein Brechmittel wieder ausgespieen zu werden (Maria Magdalena soll, so
das Buch Markus, sieben Teufel aufgezogen - oder geboren haben). Es war daher nicht weiter erstaunlich, daß eine
ähnliche Geschichte über Jesus Christus die Runde machen und danach zur Grundlage jener Bücher avancieren sollte,
die nun den Herren Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zugeschrieben werden.
Alle vier erzählen das Märchen so, wie sie es gehört haben, oder ungefähr so, und geben ihren Büchern die Namen
eines Heiligen oder Apostels, von dem die mündliche Tradition behauptet, diese seien Augenzeugen gewesen. Nur
so können alle die Widersprüche in den Büchern erklärt werden - andernfalls sind sie direkt als Schwindel, Lügen und
Fälschungen zu bezeichnen, ohne den mildernden Umstand der Leichtgläubigkeit.
Es ist, wie das vorangestellte Zitat sagt, sehr offenkundig, daß die Bücher von einer Sorte Halbjuden verfaßt worden
sein müssen. Die häufigen Hinweise auf den Obermörder und Erzschwindler Moses sowie auf die Propheten machen das
klar. Die Kirche hat den Betrug komplettiert, indem sie das Neue Testament sich auf das Alte beziehen ließ.
Zwischen dem christlichen Juden und dem christlichen Heiden wurden das Ding Namens Prophezeiung und das
Prophezeite, das Modell und das Modellierte, das Zeichen und das Bezeichnete emsig durcheinander gerührt und
zuletzt zusammengepaßt wie ein Dietrich und ein verrostetes Schloss.
Die verrückte Geschichte von Eva und der Schlange - und wie natürlich ist diese Geschichte, wenn man die
feindselige Beziehung zwischen Schlange und Mensch bedenkt (denn die Schlange beißt stets in die Ferse, höher
kommt sie nicht, und der Mensch schlägt ihr stets auf den Kopf - das ist die beste Weise, einem Biß zuvorzukommen) -
diese dumme Geschichte also wurde in eine Prophezeiung, in ein Modell und in ein Versprechen verwandelt. Der
verlogene Schwindel des Jesaja, als er dem Ahaz den Umstand, daß eine Jungfrau einen Sohn empfangen und gebären
solle, als Zeichen für eine erfolgreiche Eroberung ausdeutete, wo die Wirklichkeit nur eine empfindliche Niederlage
für den König bereit hielt (wie das schon in den Bemerkungen zum Buch Jesaja dargelegt worden ist), wurde
pervertiert und als Betrug weiter verwendet.
Auch Jona und der Wal wurden zu einem Zeichen gemacht: Jona wurde zu Jesus, der Wal zum Grab. Denn es heißt
(und sie lassen Jesus das selbst sagen) in Matthäus, Kapitel 12, Vers 40: "Denn so wie Jona drei Tage und drei Nächte
im Bauch des Wals bleiben mußte, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde
bleiben."