Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#82)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (l)
Zwischen den Leuten, die sich Christen nannten, gab es jedoch heiße Diskussionen, nicht nur,
was einzelne Punkte der Doktrin anlangt, sondern auch über die Authentizität der Bücher. Im
Disput zwischen den Herren Augustinus und Faustus, etwa im Jahr 400, sagt letzterer:
"Die Evangelien wurden lange nach der Zeit der Apostel von einigen obskuren Gestalten geschrieben,
die aus Angst davor, die Welt könnte ihren Berichten über Dinge, von denen sie keine Ahnung hatten,
mißtrauen, diese Bücher kurzerhand unter dem Namen der Apostel veröffentlichten. Sie sind so voller
versoffener und verrückter Geschichten, daß man zwischen ihnen keinerlei Zusammenhang oder
Übereinstimmung finden kann."
Und an anderer Stelle, sich an den wendend, der den göttlichen Ursprung dieser Bücher vertritt:
"Es ist nun einmal so, daß Deine Vorgänger in die Schriften unseres Herren eine Vielzahl von
Dingen eingefügt haben, die mit seiner Doktrin in krassem Widerspruch stehen, obgleich sie
seinen Namen tragen. Das ist ja nicht überraschend, haben wir doch schon oft bewiesen, daß diese
Werke nicht von ihm selbst geschrieben worden sind, noch von seinen Aposteln, sondern daß sie
großteils auf Märchen und vagen Berichten fußen, die - ich weiß nicht: von Halb-Juden? - herausgegeben
worden sind, allerdings ohne inneren Zusammenhang. Sie haben sie trotzdem unter dem Namen
der Apostel unseres Herrn veröffentlicht, und damit jenen ihre eigenen Fehler und Lügen untergeschoben." *
Der Leser kann aus diesen Auschnitten schließen, daß die Authentizität der Bücher von Beginn an
geleugnet worden ist, ja daß man diese Bücher zur Zeit der Abstimmung über das Wort Gottes als
Märchensammlung, als Fälschung und Lügenwerk angesehen hat. ** Aber das Eigeninteresse der Kirche
unterdrückte, mithilfe von Scheiterhaufen, jede Opposition und verhinderte zunächst jede Untersuchung.
Wunder folgten auf Wunder, wenn wir sie denn glauben wollen, und den Menschen wurde gelehrt, ihren
Glauben zu bekennen - egal, ob sie nun glaubten oder nicht. Aber (nur ein kurzer Gedanke) die Französische
Revolution hat die Kirche von der Macht exkommuniziert, Wunder zu wirken: Seit Beginn der Revolution hat
sie, trotz aller ihrer Heiligen, nicht ein einziges Wunder vollbracht. Und dabei hat sie Wunder niemals nötiger
gehabt als gerade jetzt. Also dürfen wir, ganz ohne göttliche Einflüsterung, wohl annehmen, all die bisher
berichteten Wunder seien nichts als Lug und Betrug.
Wenn wir bedenken, daß zwischen dem Ableben Jesu und der Entstehungszeit der Bücher mehr als dreihundert
Jahre verstrichen sind, so müssen wir selbst ohne historische Belege an der Authentizität zweifeln. Die Authentizität
des Homer´schen Werkes ist viel besser abgesichert als die des Neuen Testaments, obwohl Homer gut tausend
Jahre älter ist.
Nur ein ausgezeichneter Dichter konnte ein Werk wie das des Homer geschrieben haben - nur wenige kommen also
dafür in Frage: Ein Mann von solchen Talenten hätte nicht leicht den eigenen Ruhm an jemand anderen verschenkt.
Auf ähnliche Weise läßt sich sagen, daß nur wenige ein Werk wie die "Elemente" des Euklid verfaßt haben konnten -
nur ein ausgezeichneter Mathematiker konnte so ein Werk hervorbringen.
Wenn wir hingegen das Neue Testament betrachten, besonders die Teile, wo von der Auferstehung und
Himmelfahrt die Rede ist: Jeder, der eine Geistergeschichte erzählen oder einen Aufsatz über einen Spaziergang
schreiben kann, könnte der Autor solcher Bücher sein - so miserabel ist die Geschichte erzählt. Es ist daher
millionenmal eher wahrscheinlich als bei Homer oder Euklid, daß es sich beim Neuen Testament um eine Fälschung
handelt.
* Diese Ausschnitte habe ich aus Boulangers "Leben des Paulus", in der französischen Version. Boulanger wiederum zitiert
aus den Schriften Augustinus gegen Fausus. - Der Autor.
** Boulanger hat in seinem "Leben des Paulus" aus der ecclesiastischen Geschichte - aus den Schriften der sogenannten
Kirchenväter - einiges ausgewählt, was auf die verschiedenen Ansichten zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments durch
jene erwähnte Abstimmung hinweist, wie sie unter den vielen christlichen Sekten im Schwange waren. Die folgenden Ausschnitte
entstammen dem zweiten Kapitel des Werkes:
Die Marcionisten (eine der Sekten) nahmen an, daß die Evangelien voller Fehler waren. Die Manichäer, eine zum Beginn des
Christentums sehr starke Sekte, lehnte das Neue Testament zur Gänze als falsch ab und lieferte eigene Schriften, die man als
authentisch ausgab. Die Cerinthier lehnten wie die Marcionisten die Apostelgeschichte ab. Die Encratiten und Sevenianer verwarfen
sowohl die Apostelgeschichte als auch die Epistel des Paulus. Chrysostomus sagt in einer Predigt über die Apostelgeschichte, daß
zu seiner Zeit, also etwa 400 Jahre nach Christi Geburt, weder die Autoren noch das Buch selbst sehr bekannt waren. Die heilige
Irene, die vor dieser Zeit gelebt hat, berichtet von den Valentinianern, die wie viele andere Sekten auch die heilige Schrift als
sehr fehlerhaft bezeichneten, voll von Mängeln und Widersprüchen. Die Ebioniten oder Nazarener, die die ersten Christen waren,
verwarfen alle Briefe des Paulus und hielten ihn für einen Schwindler. Sie berichten, er sei ursprünglich ein Heide gewesen und
nach Jerusalem gekommen, wo er eine Zeit lang gelebt haben soll. Da er die schöne Tochter eines Hohepriesters heiraten wollte,
ließ er sich beschneiden. Als ihm dies keineswegs die Hand besagter Tochter verschaffte, begann er einen Streit mit den Juden
und polemisierte gegen die Beschneidung, gegen die Einhaltung des Sabbath und alle übrigen Vorschriften. - Der Autor.