Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#81)

 

Kapitel III

 

 

Nun zum Neuen Testament (k)


Die Geschichte über die Erscheinung Jesu wird mit jener seltsamen Mischung aus Natürlichem mit

dem Unmöglichen erzählt, die Legenden von Fakten unterscheidet. Man läßt ihn plötzlich durch verschlossene

Türen herein- und hinausspazieren, läßt ihn verschwinden und wieder auftauchen, wie man das sonst

von körperlosen Visionen kennt. Aber dann ist er auch hungrig, setzt sich zu seinem Fleisch und hält

ein Mittagsmahl. Aber jene, die solche Geschichten erfinden, sorgen sich nicht um alle Einzelheiten

gleichermaßen - so ist es auch hier: Man sagt uns, daß Jesus bei seiner Auferstehung seine Grabeskleider

zurückgelassen habe. Für seine späteren Erscheinungen hat man allerdings keine Kleider für ihn

vorgesehen und hat es auch verabsäumt, uns zu erzählen, was er mit dem Gewand gemacht hat, als

er in den Himmel aufgefahren ist: Hat er es ausgezogen? Ist er in voller Gewandung aufgefahren?


Im Fall des Elias waren sie immerhin sorgsam genug, ihn seinen Mantel fallen zu lassen. Aber wie es

kam, daß er in seinem Feuerwagen nicht verbrannt ist, verschweigen sie. Da aber die Vorstellungskraft

mit solchen Mängeln leicht zurechtkommt, sollen wir wohl gefälligst annehmen, er sei aus Salamanderwolle

gewebt gewesen.


Wer mit der kirchlichen Geschichte nicht vertraut ist, könnte annehmen, das Buch mit dem Namen

Neues Testament existiere seit der Zeit Christi, so wie man ja auch annimmt, die dem Moses zugeschriebenen

Bücher existierten seit der Zeit des Moses. Die historischen Fakten sind aber andere. Das Neue Testament

erschien erst etwa dreihundert Jahre nach jener Zeit, in der Christus gelebt haben soll.


Zu welcher Zeit die Bücher, die man heute dem Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zuschreibt, auftauchten,

ist völlig ungewiß. Es gibt nicht den Schatten eines Hinweises auf die Autoren, auch die Entstehungszeit bleibt im Dunkeln.

Man hätte sie genausogut nach den Namen beliebiger anderer sogenannter Apostel bezeichnen können, es

hätte keinen Unterschied gemacht. Keine einzige der christlichen Kirchen ist im Besitz der Originale, so wie

auch die Juden nicht im Besitz jener steinernen Tafeln sind, auf denen angeblich die Hand Gottes am Berg

Sinai geschrieben hat, ehe sie in die Hände des Moses gelangt waren.

Selbst wenn man die Originale fände - es gäbe keine Möglichkeit, die Handschriften als echt zu identifizieren.


Zur Entstehungszeit der Bücher gab es noch keinen Buchdruck, und folglich mußte jede Publikation und

Verbreitung der Werke von handschriftlichen Kopien abhängen, die jedermann nach Belieben verändern

und danach als Originale auf den Markt bringen konnte. *) Können wir wirklich annehmen, der weise Allmächtige

hätte sich und seinen Willen einem so heiklen Medium anvertraut - und sollen wir unseren Glauben auf solche

Ungewissheiten gründen? Wir können nicht einen einzigen Grashalm, den ER erschaffen hat, hervorbringen oder

verändern, ja nicht einmal zur Imitation sind wir fähig - aber die Worte Gottes können wir ebenso leicht

verdrehen wie die Worte von Menschen.


Etwa dreihundertfünfzig Jahre nach der Zeit Christi befand sich eine Anzahl solcher Schriften in Händen

sehr verschiedener Leute. Die Kirche war gerade dabei, sich hierarchisch zu gliedern und sich eine

Kirchenherrschaft mit einigen Befugnissen aufzubauen: und so sammelte sie diese Schriften, um sie

zu kodifizieren und unter dem heute bekannten Namen "Das Neue Testament" herauszugeben. Man entschied,

wie schon im ersten Teil meines Buches beschrieben, per Abstimmung, welche Teile dieser Schriften zum

Wort Gottes deklariert werden sollten, und welche nicht. Die jüdischen Rabbiner hatten zuvor in einer ähnlichen

Prozedur über die Bücher des Alten Testaments per Wahl entschieden.


Da das Ziel aller national etablierten Kirchen Macht und Geld ist - und Terror das Mittel zu diesem Zweck,

kann man sich leicht ausrechnen, wie jene Teile, die besonders mirakulös und wundervoll waren, die besten

Chancen hatten, bei dieser Wahl siegreich hervorzugehen. Was die Authentizität der Bücher angeht -

außer besagter Wahl haben wir nichts: Das ist alles, was uns an Evidenz zur Verfügung steht.


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Photo: Peterskirche, 1010 Wien


* Der erste Teil von "Das Zeitalter der Vernunft" ist noch keine zwei Jahre erschienen, und schon ist in der

aktuellen Auflage ein Ausdruck enthalten, der nicht von mir stammt. Die entsprechende Stelle lautet:

"Das Buch des Lukas wurde mit der Mehrheit von nur einer Stimme angenommen." Das mag stimmen, aber

es ist nicht von mir. Irgend jemand, der über die Umstände Bescheid zu wissen scheint, hat diesen Kommentar

als seine persönliche Fußzeile einer Ausgabe hinzugefügt, die in Amerika oder England im Druck erschienen war.

Die Druckerei hat diese Ausgabe in die Hand bekommen und den Kommentar in den Haupttext verfrachtet - so

wurde ich zum Autor dieser Aussage. Wenn das in nur zwei Jahren bei gedruckten Büchern passieren kann,

wieviel mehr kann dann bei handschriftlichen Kopien über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren geschehen,

wo jedermann, der des Schreibens mächtig war, eine Kopie erstellen und sie als die originale Handschrift von Matthäus,

Markus, LUkas oder Johannes ausgeben konnte? - Der Autor.

 


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