Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#79)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (i)
Ich komme nun zur letzten Szene, jener mit der Himmelfahrt. Furcht vor den Juden und
vor allem übrigen kann hier nicht zählen: Diese Himmelfahrt, wenn sie wahr ist, sollte die
gesamte Geschichte vollenden und bildet die Grundlage für alle spätere Missionstätigkeit der
Apostel.
Berichte, Erklärungen und Versprechen, die im Privaten stattgefunden haben, sei es in
der Zurückgezogenheit eines galiläischen Bergs, sei es hinter verschlossenen Türen eines
Hauses in Jerusalem, würden der Öffentlichkeit nicht als Beweis genügen, selbst wenn sie wirklich
gesprochen worden wären. Diese letzte Szene mußte jede Möglichkeit einer Leugnung oder nur
eines Disputes von vornherein ausschließen, und sie mußte daher - wie schon im ersten Teil von
"Das Zeitalter der Vernunft" dargelegt - so sichtbar und öffentlich sein wie Sonne zu Mittag. Zumindest
so öffentlich wie man die Kreuzigung gemacht hat sollte diese Himmelfahrt sein. Nun zur Sache.
Erstens schreibt der Autor des Buches Matthäus nicht eine Silbe über diese Himmelfahrt. Genausowenig
wie der Autor des Buches Johannes. Ist es möglich, anzunehmen, diese Autoren - sonst so detailverliebt -
könnten diesen Umstand übergangen haben, wäre er wahr gewesen?
Der Verfasser des Buches Markus erwähnt die Himmelfahrt auf achtlose, ja schlampige Weise mit
bloß einem Federstrich, als hätte er genug von seiner Romantisiererei und schämte sich der Geschichte.
Der Autor des Buches Lukas verfährt ebenso. Noch dazu gibt es zwischen diesen beiden keine
Übereinstimmung darüber, wo dieser letzte Abschied stattgefunden haben soll.
Im Buch Markus heißt es, Christus sei den elf beim Abendessen erschienen, auf das Treffen der
Apostel in Jerusalem anspielend. Er berichtet dann über die Gespräche, die während des Abends
stattgefunden haben. Unmittelbar danach schreibt er, wie ein Schuljunge, der eine dumme Geschichte
zu ihrem Ende bringen will: "Dann endlich, nachdem der Herr zu ihnen gesprochen hatte, wurde er
in den Himmel aufgenommen und saß zur Rechten Gottes."
Der Verfasser des Buches Lukas behauptet allerdings, die Himmelfahrt habe von Bethanien aus
stattgefunden. Er (Jesus) führte sie nach Bethanien hinaus und schied von ihnen und fuhr in den
Himmel auf. Wie auch Mohammed. Oder wie bei Moses, von dem der Apostel Judas sagt (Vers 9):
"Michael und der Teufel stritten um seinen Leib." Solange wir solche Märchen glauben, denken
wir niederträchtig über den Allmächtigen.
Ich habe nun die vier Bücher abgehandelt, die den Herren Matthäus, Markus, Lukas und Johannes
zugeschrieben werden. Wenn man bedenkt, daß zwischen der Kreuzigung und der sogenannten Himmel-
fahrt nur wenige Tage verstrichen sind, anscheinend nicht mehr als drei oder vier, und daß alles nahezu
am selben Ort, nämlich in Jerusalem, stattgefunden haben soll, so ist es, glaube ich, unmöglich, irgendwo
auf der Welt eine Geschichte zu finden, die so vollgestopft ist mit offensichtlichen Absurditäten,
Widersprüchen und Fehlern wie jene in den genannten Büchern. Ich hatte zu Beginn meiner
Untersuchungen, als ich am ersten Teil von "Das Zeitalter der Vernunft" zu schreiben begonnen hatte,
nicht angenommen, so viele und so frappierende Fehler zu finden.
Ich hatte weder Altes noch Neues Testament zur Hand und konnte diese Bücher auch nicht kaufen.
Meine eigene Existenz war mit jedem Tag mehr gefährdet, und wenn ich meine Gedanken über dieses
Thema der Nachwelt hinterlassen wollte, mußte ich rasch und konzis schreiben.
Damals zitierte ich lediglich aus dem Gedächtnis, und korrekt. Die in meinem Werk vorgebrachten
Meinungen sind das Resultat einer äußerst klaren und schon lange erreichten Überzeugung: Daß
nämlich sowohl das Alte wie auch das Neue Testament der Welt aufgeschwindelt worden sind, daß
die Erbsünde, die Geschichte von einem Jesus Christus, der der Sohn Gottes sei, von seinem Kreuzestod
zur Besänftigung göttlichen Zornes und unsere Erlösung aufgrund dieser seltsamen Dinge alles
märchenhafte Erfindungen sind, der Weisheit und Macht des Allmächtigen unwürdig.
Zuletzt, daß die einzig wahre Religion die des Deismus ist, unter dem ich den Glauben an einen Gott
und die Nachahmung seines moralischen Charakters beziehungsweise die Ausübung so genannter
moralischer Tugenden verstand und immer noch verstehe. Darauf allein (was Religion angeht) gründe
ich meine Hoffnung auf eine Freude nach diesem Leben. Und dabei bleibe ich, so wahr mir Gott helfe.