Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#78)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (g)
Nach diesem Bericht serviert uns der Autor des Buches Matthäus eine Geschichte, die in
keinem
der übrigen Bücher vorkommt und auf die ich vorher angespielt habe.
"Nun", sagt er (das heißt nach der Konversation zwischen den beiden Frauen und dem auf
einem Stein sitzenden Engel), "siehe, einige der Wachleute (jene, die vor dem Eingang des Grabes
postiert waren) kamen in die Stadt und berichteten die Vorfälle den Oberpriestern. Nachdem diese
sich mit den Ältesten beratschlagt hatten, gaben sie den Soldaten eine große Summe Geld und
sagten: Sagt, seine Jünger sind des Nachts gekommen und haben den Leichnam gestohlen, während
wir geschlafen haben. Sollte der Statthalter davon Wind bekommen, werden wir euch vor ihm schützen.
Also nahmen die Soldaten das Geld und taten, wie ihnen geheißen worden war. Genau das (also daß
die Jünger den Leichnam gestohlen haben) wird unter den Juden bis zum heutigen Tage berichtet."
Der Ausdruck bis zum heutigen Tage ist ein Beweis dafür, daß dieses dem Matthäus zugeschriebene
Buch nicht von Matthäus verfaßt worden sein kann, sondern lange nach der Zeit fabriziert worden
ist, von dem es handelt. Besagter Ausdruck impliziert ja eine lange Zeit - wir würden ihn nicht für einen
Bericht aus unserer Zeit verwenden. Wenn diese Phrase also Sinn haben soll, müssen wir einen
Zeitraum von mindestens einigen Generationen annehmen, denn sie deutet auf eine lang vergangene
Zeit hin.
Es ist auch bemerkenswert, wie absurd die Geschichte selbst ist, zeigt sie doch den Autor des
Buches Matthäus als dummen und verrückten Menschen: Seine Geschichte ist in sich widersprüchlich.
Denn obwohl man natürlich eine Wache - wenn sie existiert hat - sagen lassen kann, die Leiche
sei gestohlen worden, während sie geschlafen habe, was auch der Grund dafür sei, daß diese Tat nicht
verhindert worden sei, so muß doch derselbe Schlaf das Wissen verhindert haben, wie und von wem
der Leichenraub durchgeführt worden war - und dennoch behaupten sie, es seien die Jünger gewesen.
Würde heute ein Mensch eine Aussage über eine Tat, ihre Umstände und ihre Täter machen, obwohl
er während der Tat geschlafen hat und also von ihr nichts bemerkt haben konnte, so hätte diese Aussage
vor Gericht keine Gültigkeit. Für die Bibel mag diese Sorte Beweisführung hinreichen, aber nicht für
Angelegenheiten, wo es um die Wahrheit geht.
Ich wende mich nun zu dem Teil der Geschichte zu, in dem die angebliche Erscheinung Christi nach
der angeblichen Auferstehung stattgefunden haben soll.
Der Autor vom Buch Matthäus läßt den Engel auf dem Stein zu den beiden Marien plaudern (Kapitel
XXVIII, Vers 7): "Sehet, Christus ist nach Galiläa vorausgegangen, dort sollt ihr ihn finden. Amen,
ich habe gesprochen." Derselbe Autor läßt dann noch den Jesus persönlich mit denselben Marien
sprechen (Verse 8 & 9), unmittelbar nachdem die beiden vom Engel benachrichtigt worden sind:
Die Frauen rennen schnell zu den Jüngern, um ihnen all das zu erzählen. Im Vers 16 heißt es dann:
"Dann gingen die elf Jünger nach Galiläa, zu einem Berg, den Jesus ihnen bezeichnet hatte. Als sie ihn
dort sahen, beteten sie ihn an."
Der Autor des Buches Johannes erzählt uns eine ganz andere Geschichte. Bei ihm heißt es nämlich
(Kapitel XX, Vers 19): "Dann, am selben Abend des ersten Tages der Woche (also am Tag der
Auferstehung), als sie die Türen ihres Versammlungsortes aus Angst vor den Juden versperrt hatten,
erschien Jesus mitten unter ihnen."
Bei Matthäus marschieren die elf nach Galiläa, um Jesus wie von ihm eingeladen auf einem Berg zu
treffen, während sie zur selben Zeit laut Johannes an einem anderen und geheimen Ort versammelt
waren, da sie sich vor den Juden fürchteten.
Der Autor des Buches Lukas widerspricht dem von Matthäus noch deutlicher als Johannes, denn bei
ihm heißt es ausdrücklich, das Treffen am Abend der Auferstehung habe in Jerusalem stattgefunden,
wo sich auch die elf aufhielten (Lukas, Kapitel XXIV, Vers 13,33).
Photo: St. Ruprecht, 1010 Wien